Staatsversagen

Unlängst hat Maxim Trudoljubow über die „Zwei Staaten des Wladimir Putin“ geschrieben (in leicht gekürzter Übersetzung auf Deutsch auch bei Dekoder zu finden). Paradoxerweise, so Trudoljobow, vertraue „der Staatsmann Putin dem gewöhnlichen Staat nicht“. Das ist eine erstaunliche Feststellung, ist doch Wladimir Putin 2000 mit dem Versprechen angetreten, den russischen Staat nach dem „Chaos der 1990er Jahre“ wieder handlungsfähig zu machen. Oder, wie er es ausdrückte, die „Machtvertikale wiederherzustellen“.

Trudoljubow schreibt weiter: „Sollte Putin irgendwann einmal die Kontrolle über die Wahlen lockern, wird er zwar die Wahl eines Oberhaupts für den gewöhnlichen Staat zulassen, den Staat des Zaren aber wird er selbst behalten.“ Putins Vertraute und eine Schicht von neuen und alten Oligarchen erhalten fast unbeschränkten Zugang zu staatlichen Ressourcen, müssen aber im Gegenzug Putins „Kriege führen und Brücken bauen“. Dieser „andere Staat“ sammle die Einkommensquellen und rekrutiere die Oligarchen. „Dem gewöhnlichen Staat überlässt er die Kosten, sozialen Verpflichtungen und das Fußvolk der Gouverneure. Den gewöhnlichen Staat leitet der Premierminister, dem ist alles übertragen, womit sich der Anführer (…) nicht befassen will.“

Diese Beschreibung widerspricht dem Spektakel „Wahlen“, das wir in den vergangenen Monaten mit dem Kulminationspunkt am 18. März vorgeführt bekommen haben. In ihm wird uns ein starker Staat gezeigt, der von einem überaus populären Präsidenten im Inneren wie im Äußeren zu immer neuen Siegen und Errungenschaften geführt wird. Die Einheit von Volk und Anführer ist Programm. Oder, wie es die Chefradakteurin der staatlichen Medienholding RT, Margarita Simonjan, am Tag nach der Wahl ausdrückte: „Früher war er einfach unser Präsident und konnte abgelöst werden. Jetzt ist er unser Führer. Und wir lassen nicht zu, dass er abgelöst wird.“

Doch gleich in der ersten Woche nach der Wahl zeigten zwei auf den ersten Blick wenig politische Ereignisse, wie fragil der russische Staat wirklich ist. Am 21. und 22. März mussten sich in der Kleinstadt Wolokolamsk, 100 Kilometer westlich von Moskau gelegen, mehrere Dutzend Kinder in medizinische Behandlung begeben. Ihnen war aufgrund von Dämpfen aus einer nahe gelegenen Müllhalde übel geworden. Drei Tage später, am 25. März kam es noch viel schlimmer. In der sibirischen Kohlemetropole Kemerowo starben beim Brand eines Einkaufszentrums 64 Menschen, darunter 41 Kinder.

Beide Ereignisse, die noch glimpflich verlaufene Vergiftung der Kinder in Wolokolamsk wie auch wie die unvergleichlich tragischere Brandkatastrophe in Kemerowo waren Vorfälle mit Ansage. Sie sind beide gleichen Ursprungs. Der russische Staat, in seiner, um mit Maxim Trudoljubow zu sprechen, „gewöhnlichen“ Ausprägung, hat weder die Mittel, noch ist er „stark“ genug, um das Dasein der Bürger zu schützen. Die Infrastruktur verfällt immer weiter. Er lebt von der Substanz. Den „anderen“ Staat aber, der der öffentlichen Sicht und den gesetzlichen Regeln weitgehend entzogen ist, geht die unmittelbare Daseinsvorsorge nichts an. Er beschäftigt sich mit ihr nur im und als Ausnahmezustand.

Beides zeigte sich deutlich an den staatlichen Reaktionen auf Wolokolamsk und Kemerowo. Die Probleme mit der Müllkippe in Wolokolamsk sind lange bekannt und seit mehr als einem Jahr protestieren Anwohner dagegen. Bereits Anfang 2017 gab es Klagen und auch kleinere Demonstrationen wegen scharfer Gerüche. Am 3. März 2018 gingen dann mehr als 5.000 Menschen auf die Straße. Für eine 24.000-Einwohner-Stadt eine enorme Zahl, besonders im eher demonstrationsabholden Russland. Erst als jetzt eine große Zahl von Kindern direkt betroffen war, konnten es die Behörden sich nicht mehr leisten, den Protest zu ignorieren. Der Gouverneur des Moskauer Gebiets, des Umlands der Hauptstadt, kam in die Stadt und wurde mit Schneebällen beworfen. Sofort schritt die Polizei ein. Selbstverständlich auf Seiten des Gouverneurs. Es gab Festnahmen und einige der Protestierenden wurden mit bis zu 15 Tagen Administrativarrest belegt. Aber nun regte sich auch in der Nähe anderer Müllkippen im Moskauer Umland, das am Abfall der 15-Millionen-Stadt erstickt, Protest. An zwei anderen Orten versuchten Anwohner, durch Blockaden das Abladen von neuem Müll zu verhindern. Der Gerechtigkeit halber muss angemerkt werden, dass die Verwaltung des Moskauer Umlands schon länger im Streit mit der Moskauer Stadtverwaltung steht, die mehr und neue Müllkippen außerhalb der Stadt fordert. Der Gründe dafür liegen wohl ebenso in unterschiedlichen Geschäftsinteressen wie auch in den voraussehbaren Protesten, mit denen sich die Umlandsverwaltung dann konfrontiert sähe, wenn sie noch mehr Müll aus Moskau aufnähme.

In Wolokolamsk und dem übrigen Moskauer Umland geht es bisher „nur“ um die Gesundheit der Menschen, nicht unmittelbar um Leben und Tod. Die Empörung über die Gleichgültigkeit der staatlicherseits Verantwortlichen mag sich auch deshalb noch in kontrollierbaren Grenzen halten. Zumal die Erwartungen der Bevölkerung an ihren, den „gewöhnlichen“ Staat ohnehin nicht besonders hoch sind. Die Menschen wissen, dass sie von ihm betrogen und missachtet werden. Wo immer möglich, versucht man sich deshalb vom Staat und seinen Institutionen fern zu halten. Im grundsätzlichen und unmittelbaren Leid der Katastrophe von Kemerowo ist das nicht mehr möglich.

Das musste selbst Präsident Putin spüren. Das Feuer brach in Kemerowo an einem Sonntag um 16 Uhr Moskauer Zeit aus. Schnell kamen über die sozialen Netzwerke im Internet immer mehr und immer schrecklichere Nachrichten und, womöglich noch wichtiger, Bilder. Die großen staatlichen und vom Staat kontrollierten Fernsehkanäle ignorierten hingegen den Brand zunächst und spulten das ganz normale Sonntagabendprogramm aus politischen Wochenrückschauen und Unterhaltungsshows ab. Putin schwieg. Sein Sprecher wiegelte ab. Doch angesichts von so vielen Toten und vor allem von so vielen toten Kindern ließ sich das nicht lange durchhalten. Schon am nächsten, am Montagabend flog Putin nach Kemerowo.

Auch der dortige Gouverneur Aman Tulejew hatte sich bis dahin nicht öffentlich blicken lassen. Zwar schickte er seinen Stellvertreter Sergej Ziwiljew zu den Tausenden aufgebrachten Demonstranten auf dem zentralen Platz der Stadt, aber Ziwiljew fiel wenig mehr ein, als die wütenden und verzweifelten Menschen zu beschimpfen. Sie sollten aufhören, mit der Katastrophe „für sich selbst Reklame machen“. Im Internet ging ein Shitstorm auf Ziwiljew nieder, als ihn einer der Demonstranten mit der Information beschämte, er habe bei dem Brand Frau, Schwester und drei Kinder verloren. Seither ist dieser Igor Wostrikow der Star des Protests und der Forderungen nach völliger Aufklärung und Bestrafung der Verantwortlichen. Ziwiljew (oder seine Vorgesetzten) erkannte offenbar den Fehler. Jedenfalls bat er an einem der nächsten Tage die wütenden Demonstranten auf den Knien um Verzeihung.

Doch weiter oben wird die Frage, wer hier die Betroffenen, wer die Opfer sind und wer die Verantwortung trägt, möglichweise anders gesehen als auf dem Platz bei den Angehörigen der Brandopfer und den Protestierenden. Gouverneur Aman Tulejew jedenfalls entschuldigte sich nicht bei ihnen, sondern bei Präsident Putin, dass er den Brand nicht habe verhindern können. Die Bilder dieser unterwürfigen Szene verbreiteten sich erneut in großer Zahl im Internet.

Auch Putin wollte die Menschen nicht allzu nahe an sich heranlassen, jedenfalls nicht in zu großer Zahl. Für seinen Besuch einer von Trauernden eingerichteten Gedenkstätte vor dem Einkaufszentrum wurde der Platz von der Polizei geräumt. Fotos und Fernsehbilder zeigen Putin einsam auf dem leeren Gelände. Lediglich im Hintergrund sind einige Polizisten und Absperrungen zu sehen. Nur im Krankenhaus sprach er mit einigen Verletzten und traf später auch einige Angehörige. So berichten jedenfalls die Fernsehsender. Ton zu den Bildern gab es keinen. Putin-Sprecher Dmitrij Peskow erklärte den leeren Platz und den fehlenden Ton später damit, Putin habe keine leeren Versprechen machen wollen. Wahrscheinlicher ist aber, dass im Kreml gefürchtet wurde, der ansonsten sakrosankte Präsident hätte von empörten Menschen ausgebuht oder, gar nicht auszudenken, vielleicht gar mit so etwas wie Tomaten oder Eiern beworfen werde können. Außerdem sahen die Bilder aus dem Krankenhaus seltsam steril aus. In den sozialen Netzwerken wurde sofort gemutmaßt, dass es sich nicht um Verletzte und Angehörige gehandelt habe, sondern um Komparsen aus Putins Umgebung. Dieser Vorwurf ist so weit hergeholt nicht. Es gibt Beispiele für Ähnliches in der Vergangenheit.

Über all diese Ereignisse geriet die Diskussion darüber, was zu der Katastrophe geführt haben könnte und wer dafür verantwortlich zu machen sei, ein wenig in den Hintergrund. Allerdings herrscht auch so Einigkeit über die grundlegenden Ursachen: Schuld war die überall im Lande herrschende Mischung aus Korruption, Verantwortungslosigkeit und, hier bekommt das Wort einen ganz konkreten Sinn, katastrophaler Sicherheitskultur. Der oberste Katastrophenschützer des Landes, Wladimir Putschkow, schob Putin gegenüber alles auf eine seit 2016 verhängte Kontrollpause zum Schutz der Geschäftsleute vor korrupten Beamten. Die aber, von Putin persönlich verfügt, hat den durchaus plausiblen Grund, dass die vielen Kontrollen zuvor kaum zu mehr Sicherheit oder Qualität geführt haben, sondern vor allem zu volleren Taschen der Kontrolleure.

Fast jeder im Land, zumindest aber jeder, der irgendetwas unternimmt, hat bereits die Erfahrung gemacht, dass es den Kontrollbehörden — von der Brandschutzinspektion über die Gesundheitsämter bis zur Verkehrspolizei — fast nie um Regeln und Sicherheit geht, sondern in erster Linie darum, wie am besten abkassiert werden kann. Wer zahlt, wird in Ruhe gelassen, egal wie der Brandschutz/die Hygiene/die Verkehrssicherheit des Autos nun tatsächlich aussieht. Wer nicht zahlt wird schikaniert, oft mit unerfüllbaren Forderungen – bis er zahlt. Saubere Beamte, die es selbstverständlich auch gibt, werden von diesem System ausgespuckt. Sie können kein Geld nach oben abgeben und werden aus den Behörden gedrängt. Oder sie werden erst gar nicht hinein gelassen, weil für besonders lukrative Posten eine Art Abstand gezahlt werden muss, der dann wieder zurückverdient wird.

Eine kleine Episode aus Kemerowo soll illustrieren zu welchen Ergebnissen das führen kann (und irgendwann irgendwo auch wieder führen wird). Kinobesitzer werden von der Steuerbehörde, wahrscheinlich mitunter nicht zu Unrecht, beschuldigt, mehr Eintrittskarten zu verkaufen als bei der Steuer anzugeben. Daher gibt es unangekündigte Kontrollen in den Kinosälen. Die Zuschauer werden gezählt und mit der Zahl der verkauften Karten verglichen. Es drohen hohe Strafen. Weil Personal teuer und unzuverlässig ist, sind viele Kinos dazu übergegangen, die Säle während der Vorstellung von außen zu verschließen, damit niemand zusätzliches hineingelangen kann. Die meisten Kinos in Russland liegen inzwischen in Einkaufszentren wie jenem in Kemerowo und ihre Foyers sind oft nicht vom übrigen Teil der Zentren getrennt. Wie es aussieht, ist so eine verschlossene Tür vielen Kindern und einigen Erwachsenen in Kemerowo zum Verhängnis geworden.

Diese allgegenwärtige Kontrolle, die aber keine Kontrolle ist, gebiert einen Teufelskreis, dessen herausragende Eigenschaft nicht ist, dass es keinen Ausweg gibt, sondern dass kaum jemand aus ihm einen Ausweg sucht. Alle haben sich im Alltag damit eingerichtet. Der korrupte Staatsapparat reproduziert sich selbst, indem von ganz unten bis ganz nach oben Einnahmen generiert werden müssen. Wer sich weigert wird ausgeschieden. Die Bürger, egal ob nun als Geschäftsleute oder Privatpersonen, haben in vielen Situationen kaum eine Wahl. Oder zumindest nur die Wahl dazwischen, einen erheblichen Mehraufwand zu leisten, um zu bekommen, was sie brauchen (und was ihnen meistens vom Gesetz her zusteht), oder es gar nicht zu bekommen. Im funktionierenden korrupten Austausch als Ersatz der nicht funktionierenden gesetzlichen Regeln fällt so das Interesse von Staatsapparat und Bürgern (wenn auch zumindest bei Letzteren mitunter eher widerwillig) immer mehr zusammen.

Wie Maxim Trudoljubow geschildert hat, haben Putin die von ihm erzeugten quasifeudalistischen Verhältnisse und die Trennung des russischen Staates in einen „gewöhnlichem“ und einen „außerordentlichen“ am Anfang seiner Regentschaft geholfen, den Staat wieder funktionsfähig zu machen. Einer der führenden Ideologen dieses Systems, der frühere stellvertretende Leiter der Präsidentenadministration Wladislaw Surkow, nannte das einmal „Handsteuerung“. Mit der Zeit hat sich diese oben in der Staatshierarchie womöglich bequeme und, wie sich zeigt, auch über längere Zeiträume durchaus kontrollierbare Methode, bis ganz nach unten durchgefressen. Je weit man aber nach unten kommt, umso anarchischer wird es, da es letztlich nur eine Kontrollinstanz gibt: den Präsidenten selbst.

Diese Anarchie hat vor allem etwas damit zu tun, dass sich Putin in den vergangenen sechs Jahren weitgehend aus dem „gewöhnlichen“ Staat zurückgezogen hat. Er hat durch den „außerordentlichen“ Staat regiert. Schon die ersten zwei Wochen der nächsten sechs Jahre haben gezeigt, dass er sich das möglicherweise nicht mehr lange wird leisten können. Die möglichen negativen Folgen der Katastrophe von Kemerowo für seine Herrschaft scheint er durch seinen direkten Einsatz vor Ort eingeschränkt zu haben. Das weit harmlosere Wolokolamsk stinkt noch. Doch um die tickende Zeitbombe zu entschärfen muss mehr geschehen.