Wie zuverlässig sind Meinungsumfragen in Russland?

Menschen sind visuelle Wesen. Botschaften in bunten Balken und Kreise können schnell aufgenommen werden und prägen sehr stark unsere Vorstellungen und Meinungen. Die Russland-Analysen zum Beispiel, in denen ich die Notizen aus Moskau, eine regelmäßigen Kolumne schreibe, versorgen Ihre Leserinnen und Leser in jeder Nummer mit vielen schönen Diagrammen, die Umfrageergebnisse wiedergeben (meist der drei großen Umfrageinstitute Lewada-Zentrum, WZIOM und FOM). Das ist ein nützlicher Service. Auch ich nutze die Umfragen häufig (meist von Lewada, denen ich traue, weniger der beiden anderen, denen ich weniger traue). So machen es eigentlich alle, die ich kenne.

In Russland (und bei vielen, die Russland professionell beobachten) besteht heute weitgehende Einigkeit darin, dass es eine große und, nun, nennen wir sie konservative, Mehrheit gibt, die die Politik von Präsident Putin unterstützt. Eigentlich alle, die das behaupten, stützen sich auf Meinungsumfragen. Aber wie zuverlässig sind die Ergebnisse der Meinungsumfragen?

Meinungsumfragen sind in den vergangenen Jahren fast überall auf der Welt wichtiger geworden. Sie werden immer häufiger durchgeführt. Viele werden gar nicht veröffentlicht. Ihre Auftraggeber sind Parteien, Regierungen oder Lobbyisten, und die Ergebnisse dienen der Strategiebildung. Um diese Umfragen soll es hier nicht gehen, sondern nur um die, die auch veröffentlicht werden. In demokratischen Gesellschaften geben diese Umfragen Stimmungen wider. Sie sind Momentaufnahmen. Aber letztlich gilt das Ergebnis von Wahlen.

Da in Russland das Ergebnis von Wahlen aber (weitestgehend) vorher feststeht, nicht an den Wahlurnen, sondern im Kreml gemacht wird, fehlen Wahlen als, wenn man so will, letztinstanzliches Korrektiv von Umfrageergebnissen. Das hat dazu geführt, dass Wahlen als Ausdruck dessen, was dann oft, auch und insbesondere in Russland, Volkswille genannt wird, in vielem von Umfragen abgelöst worden sind. Nicht selten wird Umfragen mehr geglaubt als Wahlergebnissen.

Um zu verstehen, warum in Russland Umfragen mehr bewirken als in anderen Ländern, ist es zuerst einmal wichtig darauf hinzuweisen, dass Russland ein in weiten Teilen entpolitisiertes Land ist (auch die Proteste vom vergangenen Wochenende sprechen nicht dagegen; selbst nach oppositionellen Angaben sind maximal 60.000 Menschen in einem Land mit einer Einwohnerzahl von 145 Millionen auf die Straße gegangen und das war der größte Protest seit fünf Jahren). Also, nach dem kurzen Intermezzo im Winter 2011/2012 ist es erneut eher schlechter Ton über Politik zu reden. Das merken auch die Umfrager. Sie haben es sehr schwer, überhaupt Menschen zu finden, die bereit sind zu antworten. Nach unterschiedlichen Quellen sind nur zwischen 10 und 30 Prozent der repräsentativ Ausgewählten auch tatsächlich bereit, auf die Fragen der Meinungsforscher zu antworten. Schon allein damit ist jede Repräsentativität zum Teufel.

Zwar gibt es in der Empirie durchaus Methoden, die daraus entstehenden Fehlerquoten zu verringern, aber eben nur zu verringern. Sie bleiben hoch. Die Umfrageinstitute argumentieren umgekehrt, diese Methoden reichten aus, um trotzdem ein repräsentatives Ergebnis zu ermöglichen. Eine ihrer Thesen ist, dass die sich einer Befragung Entziehenden an Politik nicht oder wenig interessiert seien, also auch mit großer Wahrscheinlichkeit an Wahlen nicht teilnähmen und deshalb im Ergebnis weitgehend ignoriert werden könnten. Das ist zumindest eine gewagte These. Vor allem aber lässt sie sich nicht beweisen, da dazu eben jene 70 bis 90 Prozent Umfrageverweigerer befragt werden müssten, die ja aber nicht befragt werden möchten (und zu denen, möchte ich hinzufügen, auch ich gehöre, und ich bin ganz sicher an Politik interessiert und nehme ganz sicher an Wahlen teil). Aus diesen Gründen ist also durchaus auch eine andere (wenn auch ebenso wenig beweisbare) Lesart der Umfrageverweigerung möglich: Sie ist eine Art von stillem Protest.

Hier ein kleiner Einschub in die Geschichte von Meinungsumfragen in Russland. Diese Geschichte ist recht jung, da es in der Sowjetunion (mit Ausnahme der letzten Jahre) keine Meinungsumfragen gab. Die Partei wusste ja auch so alles. 1987, die Perestroika nahm gerade Fahrt auf und Glasnost, also Offenheit war gefragt, gründeten dann Soziologen um Tatjana Saslawskaja das „Allunionsinstitut zur Erforschung der Öffentlichen Meinung“ (WZIOM). Ein Jahr später schlossen sich Jurij Lewada und eine Reihe seiner Schüler, die vorher im Untergrund gearbeitet hatten, dem WZIOM an. Auch hier schon ersetzten Umfragen Wahlen. Denn Wahlen im Sinn der Möglichkeit einer freien Auswahl gab es (noch) nicht. In den 1990er Jahren schienen die russischen Umfrageinstitute ihren Brüdern und Schwestern im Westen immer ähnlicher zu werden.

In den 2000er Jahren hat sich der Kreml dann die Umfrageinstitute schnell ebenso unterworfen, wie es mit allen anderen politisch-gesellschaftlich bedeutenden Institutionen geschehen ist. Ausnahme bliebt das Lewada-Zentrum. Die russische Regierung hatte 2003 beschlossen, die Leitung des WZIOM zu ersetzen. Die Mitarbeiter um Institutsgründer und -leiter Jurij Lewada widersetzten sich und gründeten ein eigenes Institut, dass erst WZIOM-A genannt wurde und nach einem Verbot, diesen Namen zu nutzen, zum Lewada-Zentrum wurde.

Trotz der nun staatlichen Kontrolle weiter Teile der Meinungsforschung in Russland wird, soweit ich das beurteilen kann, bei den Umfragen aber wenig direkt gefälscht. Die Existenz des Lewada-Zentrums mag hier eine korrigierende und bremsende Wirkung haben. Es ist kaum zu beurteilen, wie groß sie ist. Zu offensichtliche Fälschung von Meinungsumfragen ist aber auch gar nicht im Interesse des Kremls. Wie in vielen anderen Politikfeldern folgt die staatliche Politik in Russland der Faustregel, soviel indirekte Manipulation wie möglich, nur soviel direkte Eingriffe wie nötig.

Wie funktioniert das im Bereich Meinungsumfragen? Die Umfrageinstitute brauchen gar nicht direkt zu fälschen. Sie schauen einfach die Abendnachrichten im staatlich kontrollierten Fernsehen und fragen dann am nächsten Tag die Menschen, die bereit sind auf ihre Fragen zu antworten (und ich weise noch einmal daraufhin, dass das sehr wenige sind), ob sie mit dieser oder jener Aussage einverstanden sind. Im Ergebnis gibt es eine starke Tendenz der Zustimmung, nicht zuletzt deshalb, weil die noch aus Sowjetzeiten stammende Vorsicht im öffentlichen Raum viele Menschen dazu neigen lässt, lieber dem offiziellen Narrativ zuzustimmen als ihm zu widersprechen. Denn Widersprechen könnte gefährlich sein. Zustimmen ist dagegen vielleicht unaufrichtig, sicher aber ungefährlich.

Diesem Diskurs entkommt auch das Lewada-Zentrum nur schwer, denn es bewegt sich weitgehend im gleichen Rahmen der staatlichen Propaganda, nur eben mit umgekehrtem Vorzeichen. Der Sprachduktus, die Begriffe, die Begrifflichkeit, alles wird auch bei Lewada durch die staatliche Propaganda vorgeprägt. Das ist kein Vorwurf. Würde das Lewada-Zentrum grundsätzlich anders handeln und zum Beispiel „westlich“ fragen, kämen nur andere Abweichungen zustande. Mitunter bricht aber das Lewada-Zentrum aus dem durch die staatliche Propaganda vorgegebenen Begriffsrahmen aus. Oft gibt es dann unerwartete, vom Mainstream abweichende Resultate.

Zwei Umfragen zum Thema des russischen Militäreinsatzes in Syrien sollen das ein wenig anschaulich machen. Als im Sommer 2015 gerade erst in der russischen Öffentlichkeit begonnen wurde, die Frage zu diskutieren, dass Russland in den syrischen Bürgerkrieg militärisch eingreifen könnte, fragte das Lewada-Zentrum, ob Russland Baschar al-Assad militärisch unterstützen und Soldaten nach Syrien schicken solle. Das Resultat war erwartungsgemäß negativ. Schon vorher hatten Umfragen gezeigt, dass militärisches Eingreifen außerhalb der unmittelbaren russischen Nachbarschaft höchst unpopulär ist.

Nur rund zwei Wochen später hatte die staatliche Propaganda eingesetzt und das militärische Eingreifen umgedeutet. Das Lewada-Zentrum fragte die Menschen nun, was sie davon hielten, wenn russische Kampfflugzeuge „die Stellungen der in Russland verbotenen Terrororganisation Islamischer Staat“ bombardierten. Die Frage deckte sich bis in die Diktion mit der Wortwahl in den Fernsehabendnachrichten. Auch hier war das Ergebnis das erwartete: eine Mehrheit war dafür.

Es spricht sehr viel dafür, dass Umfragen in Russland weniger Meinungen abfragen als vielmehr Assoziationen. Viele Menschen antworten, was ihnen zu den in den Fragen gegeben Stichworten einfällt. Zwar dürften sich Meinungsforscher in demokratischen Ländern mit ähnlichen Problemen herumschlagen, aber in Russland landen am Ende sehr oft die Schlüsselwörter der staatlichen Propaganda in den Ergebnissen der Umfragen weit vorn.    

Hinzu kommt noch ein Aspekt der, wenn man so will, Produktionsbedingungen der Umfrage(ergebnisse). Die Umfragen selbst werden (hochprofessionell) in Moskau konzipiert. Aber die Fragen werden überall im Land von dafür meist nur notdürftig ausgebildeten Menschen gestellt (das noch viel problematischere Thema von Telefonumfragen lasse ich heute außen vor). Das ist, wegen der Größe des Landes und der meist begrenzten finanziellen und, besonders wichtig, personellen Ressourcen, selbst bei bestem Willen (also im Lewada-Zentrum) kaum zu vermeiden. Diese Interviewer treffen nun auf Menschen, die eigentlich nicht so gerne befragt werden möchten, vor allem nicht zu Politik. Das wissen wir aus Interviews mit den Interviewern. Außerdem gibt es noch ein Stadt–Land-, ein Alters- und ein Bildungsgefälle. Je größer die Stadt, je gebildeter und jünger die Befragten, umso zögerlicher sind sie bei Antworten auf politische Fragen. All das wirkt sich erheblich auf die Qualität der Ergebnisse aus.

Am Ende erhalten wir aus den Umfragen das Bild eines sehr konservativen, fast unbeweglichen Landes, das dann manchmal, wie im Winter 2011/2012 explodiert oder in dem plötzlich, wie am vorigen Wochenende, Zehntausende Menschen gegen Korruption, Ministerpräsident Medwedew und auch Präsident Putin auf die Straße gehen, obwohl sich das in Umfragen nicht abgezeichnet hat. Das einzige Forschungsinstitut, dass im Frühjahr 2011 so etwas wie Unzufriedenheit vorausgesagt hat, war das Zentrum für Strategische Ausarbeitungen, das durch die russische Regierung finanziert wird und auch den Kreml berät. Ihre Erkenntnisse hatten die Forscher dort allerdings aus Diskussionen in sogenannten Fokusgruppen gewonnen und nicht aus Umfragen.

Ist das nun ein grundsätzliches Plädoyer gegen Umfragen in Russland? Nein, keineswegs. Man kann mit den Umfragen, insbesondere natürlich denen des Lewada-Zentrums, schon einiges anfangen. Das betrifft aber eher die mittel- und langfristigen Analysen, die aus ihnen gewonnen werden, als die jeweils aktuellen Zahlen. Durch Langzeitbeobachtung, durch das Stellen von immer wieder den gleichen Fragen über einen langen Zeitraum lassen sich Trends und Entwicklungen herausfinden. Genau das machen Lewada-Direktor Lew Gudkow und seine Kollegen mit großer Akribie. So können sie zum Beispiel durchaus zeigen, dass und wie Propaganda wirkt, auch wenn es unmöglich ist, in Zahlen zu fassen, was herauskäme, gäbe es keine Propaganda und eine wenn schon nicht freie, so doch wenigstens plurale Presse. Niemand kann heute wissen, was „das Volk“ wirklich denkt.    

Solange es keine freien und fairen Wahlen in Russland gibt, die zuverlässiger darüber Auskunft geben, bleibt uns aber trotzdem kaum etwas anderes übrig, als uns (auch) auf die Umfrageergebnisse zu beziehen. Das muss schon allein deshalb sein, weil sie politmächtig sind und (politisches) Verhalten ändern, egal wie belastbar sie sind. Man sollte sich aber dabei immer der hier beschriebenen Einschränkungen bewusst sein.