Woher kommt der russische Antiamerikanismus?

Eine grundsätzliche Ablehnung der USA ist (welt-)weit verbreitet und hat (nicht zuletzt in Europa) lang zurückreichende historische Wurzeln. Die einfachste Erklärung ist die gleichzeitige Anziehungs- und Abstoßungskraft des aktuellen Welthegemons. Sie ist, jenseits jeder politischen Bewertung, sowohl psychologisch (am einen Pol) wie geopolitisch (am anderen Pol) erklärlich. Doch in manchen Ländern, in manchen Phasen verwandelt sich diese USA-Ablehnung in einen veritablen Antiamerikanismus. Das scheint in Russland heute der Fall zu sein.

Ich sehe drei wesentliche Quellen für den gegenwärtigen, fast schon pathologisch anmutenden Antiamerikanismus in Russland: die hierzulande allgegenwärtigen Verschwörungstheorien, ein als natürliches Recht verstandene Weltmachtstreben und ein großes, doppeltes Gefühl der Unsicherheit. Der Reihe nach.

Verschwörungstheorien dominieren sowohl weite Teile des öffentlichen als auch des privaten Diskurses. Legendär ist die weit verbreitete (direkt unübersetzbare) Vorstellung von einer mirowaja sakulisa, einer Weltherrschaft hinter den Kulissen, also so einer Art Puppenspielertruppe, die im Geheimen alle (wichtigen) Fäden zieht(Google gibt 190.000 Einträge, die russische Suchmaschine Yandex gleich eine Million, bei Wikipedia fehlt ein Eintrag was schon wieder Grund sein kann, eine amerikanische Verschwörung zu wittern). Sie wird, je nach Wahl und Vorliebe, den USA, der Wallstreet, Bilderberg oder dem Weltjudentum zugeschrieben. Wobei das für viele ein und dasselbe ist.

Nun findet man Verschwörungstheorien überall auf der Welt. In Russland aber gehören sie erstens zum gesellschaftlichen Mainstream und spuken zweitens auch in den Köpfen vieler staatlicher Funktionsträger herum. Ich will das nur an zwei von sehr vielen möglichen Beispielen jüngeren Datums verdeutlichen.

Leonid Reschetnikow ist ein Generalleutnant des Auslandsgeheimdienstes im Ruhestand. 2009 hat er, mit Unterstützung seines ehemaligen Arbeitgebers, ein Russisches Instituts für Strategische Forschung (RISS) gegründet, dem er als Direktor vorsteht.  Reschetnikow sagte kürzlich in einem Interview für Argumenty i Fakty, eine populäre und landesweit verbreitete Zeitung, folgendes: Das erste Mal haben die Amerikaner zur Zeit der Oktoberrevolution 1917 versucht, Russland zu zerstören. Der zweite Versuch wurde während des Zweiten Weltkriegs unternommen. Der dritte 1991. (…) Die USA haben sowohl Deutschland als auch die UdSSR in den Krieg getrieben. Sie haben beiden Ländern geholfen, stärker zu werden, damit das Aufeinanderprallen dieser beiden Staaten zur Katastrophe wurde. Eben deshalb haben die USA sich in den 1930er Jahren aktiv an der Industrialisierung der UdSSR beteiligt.“ 

Nun könnte man Reschetnikow, auch wegen seiner Herkunft aus dem KGB der 1970er Jahre, als alten USA-Hasser abtun. Aber zum einen besetzen heute genau solche Ex-KGBler sehr viele hohe Posten im Staat und zum anderen finden sich solche und ähnliche Überzeugungen quer durch die russische Gesellschaft. Das musste zum Beispiel auch Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich Böll Stiftung, Anfang Februar in Moskau bei einem Gespräch mit Unternehmern feststellen. In einem Artikel für die Tageszeitung „Die Welt“ berichtet er von einem Gespräch mit Mitarbeitern eines international aktiven Technologieunternehmens in Moskau, auf den ersten Blick alle gebildete und aufgeklärte Leute: „Im zweiten Weltkrieg hätten die angelsächsischen Mächte Russland und Deutschland aufeinandergehetzt. Dieses Spiel würde sich heute wiederholen. Die Ukraine sei ebenso Teil Russlands, wie Bayern zu Deutschland gehöre. Der Zerfall der Sowjetunion sei ein historisches Unglück, hervorgerufen durch ein Machtvakuum im Zentrum. Das dürfe sich nicht wiederholen.“ 

Zweites Beispiel: Vorigen Herbst wärmte der ehemaligen Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB und heutige Leiter der Staatssicherheitsrats Nikolaj Patruschew, jemand aus dem engsten Zirkel um Putin, eine nachweislich erfundene Geschichte über die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright auf. Demzufolge habe sich schon 1999 ein des Gedankenlesens mächtiger FSB-Mitarbeiter in Albrights Gehirn eingeklinkt und dort entdeckt, dass Albright nicht nur eine „pathologische Russlandhasserin“ sei, sondern auch vorhabe, Russland um seine sibirischen Rohstoffe zu bringen. Präsident Putin, bei einer Bürgersprechstunde schon 2007 darauf angesprochen, erklärte, er kenne zwar keine solche Aussage, wisse aber, „dass sich solche Gedanken in den Köpfen einiger Politiker wälzen.“

Verschwörungstheorien sind in Russland kein Randphänomen. Zeitschriften und Bücher über sie werden in großen Mengen und mit hohen Auflagen verkauft. Das staatliche Fernsehen bringt täglich Sendungen, in denen diese oder jene aktuelle oder historische Verschwörung „aufgeklärt“ wird. Insbesondere Leute aus den Sicherheitsstrukturen, egal ob nun Geheimdienst oder Militär, scheinen ihre angeblichen „Wahrheiten“ zu glauben. Viele Politiker bis hin in Regierung und Kreml bedienen sich ihrer öffentlich.      

Die zweite Quelle des russischen Antiamerikanismus ist direkte Konkurrenz. Im Land herrscht die weit verbreitete Überzeugung, internationale Politik sei ein ständiger Kampf großer Mächte um Einfluss und Überleben. Schon die Sowjetunion arbeitete sich ständig an den USA ab. Nur das Auf-gleicher-Augenhöhe-Sein mit den USA entsprach dem Selbstverständnis. Die Sowjetunion hatte allerdings zudem noch eine ideologische Notwendigkeit: Wenn der Kommunismus dem Kapitalismus überlegen war (immerhin der Rechtfertigungsgrund für die Existenz einer Sowjetunion), dann musste er sich an der kapitalistischen Führungsmacht messen lassen. Das aus heutiger Sicht ein wenig lebensfremd wirkende Chruschtschowsche Motto vom Einholen und Überholen der USA durch die Sowjetunion (schon zu Sowjetzeiten von Volkesmund zum Überholen ohne einzuholen umgemünzt) hat hier ebenso seine Wurzeln. Es begründete und legimitierte Macht.

Und tatsächlich hat es die Sowjetunion ja einige Jahrzehnte geschafft, eine anerkannte, wenn nicht Parität, so doch zumindest Konkurrenz mit den USA auf hohem Niveau aufrechtzuerhalten. Das ging dann aber so gründlich über ihre Kräfte, dass sie zusammenbrach und daraus nach Putins Diktum (und in sehr vielen russischen Köpfen) die „größte geopolitische Katastrophe der 20. Jahrhunderts“ wurde. Doch der Anspruch blieb, auch wenn er heute nicht mehr ideologisch, sondern aus einem dem Lande angeblich eigentümlichen Wesen heraus begründet wird. Russland habe demnach ein natürlich (mitunter auch historisch) genanntes Recht, eine Großmacht zu sein, weil es so groß ist, weil es (so viele) Atomwaffen besitzt und weil es (hier wird es ein wenig mystisch) den Willen besitzt, Großmacht zu sein (im Gegensatz zu den wahlweise als schwach, verbraucht, verweichlicht angesehenen anderen ehemaligen europäischen Großmächten).

Aus der Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit ergibt sich eine narzisstische Kränkung von so enormem Ausmaß, dass sie nicht nur nach Rechtfertigung, sondern nach Satisfaktion verlangt. Um diesen Phantomschmerz, nicht mehr eine von zwei Supermächten zu sein, ertragen zu können, phantasiert sich (fast) das ganze Land, vor allem aber die politische Führung in den Wahn, diese Fixierung auf die USA sei gegenseitig. So wird (fast) alles, was die USA tun (oder lassen) unter dem Blickwinkel betrachtet, es geschehe aus Konkurrenz mit Russland, um Russland zu schwächen oder um Russland zu schaden.

Zuletzt wurde das wieder im Winter vor zwei Jahren sehr deutlich, als der Umsturz in der Ukraine im russischen Mainstream und von den Staatsmedien in erster Linie als Versuch der USA interpretiert wurde, Russland an der Rückkehr zum Großmachtstatus zu hindern. Entsprechend laut war dann der Triumph nach der Annexion der Krim, dass man es den Amerikanern gezeigt habe. Ähnlich ist es mit dem russischen Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg. Sofort nachdem vorige Woche ein Waffenstillstand dort bilateral (!) mit den USA ausgehandelt worden war, wandte sich Präsident Putin persönlich per ansonsten sehr seltener direkter Fernsehansprache ans Volk, um die Vereinbarung (den Triumph!) zu verkünden. Die Message: Nun, nachdem die USA die Gleichberechtigung Russlands anerkannt haben und die Großmächte sich (wieder) verständigen, laufe alles erneut in geordneten Bahnen.

Eine dritte Quelle des russischen Antiamerikanismus ist das, was der große US-amerikanische Russlandkenner Georg Kennan schon Mitte des 20. Jahrhunderts Russlands „traditional and instinctive sense of insecurity“ nannte. Dieses Unsicherheitsgefühl stammt einerseits aus dem jahrhundertelangen Dasein Russlands (und seines Vorgängers, des Moskauer Großfürstentums) als Staat ohne natürliche Grenzen, der angeblich immer wieder und von allen Seiten feindlichen Überfallen ausgesetzt war. Zwar ist das, spätestens seit Großfürst Iwan III. im 15. Jahrhundert mit dem Sammeln der russischen Erde begonnen hat, eher selten der Fall gewesen, aber diese angebliche „Grenzenlosigkeit“, die damit einhergehende angebliche Verletzlichkeit und die dadurch angeblich notwendige unbedingte Verteidigungsbereitschaft ist der vielleicht wichtigste Grundmythos des in Russland vorherrschenden historischen Narrativs. Sowohl die Expansion erst des Moskauer Großfürstentums und dann des russischen Zarenreichs in alle Richtungen als auch die „Notwendigkeit“ eines Einflussgürtels in Ländern um Russland herum werden damit gerechtfertigt.

Die Unsicherheit speist sich aber auch aus einem ebenfalls seit langem bestehenden, sehr tief gehenden zivilisatorischen Inferioritätsgefühl erst Europa, dann, ab dem 19. Jahrhundert, dem Westen (also einschließlich der USA) insgesamt gegenüber. In Umfragen (u.a. des Lewada-Zentrums), ich bin darauf in diesen Notizen bereits im vorigen Dezember eingegangen, zeigt sich „das Wissen, dort [wo der Westen zivilisatorisch ist, JS] mit dem eigenen Land nicht hinzugelangen. Als Folge wird der Westen als Lebenskonzept negiert, denunziert und die eigene Unzulänglichkeit auf ihn übertragen. Psychologisch gesehen wohl eine Schutzreaktion“. Dieses Inferioritätsgefühl war immer von einer gleichzeitigen Faszination begleit

et, und von der Sehnsucht nach einer, wie es schon Dostojewskij erträumte, gleichberechtigten Synthese zwischen westlicher Kultur und russischer Bodenständigkeit. An den USA bewunderten russische Intellektuelle dann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre vor allem die Dynamik, die Wolkenkratzer (die selbst Stalin in Moskau nachbauen ließ), die Technologie, das US-amerikanische Tempo. Die Folge dieser immer ein wenig ungleich gebliebenen Beziehung ist bis heute eine Art Hassliebe den USA gegenüber (während es Europa gegenüber eher der ein wenig wehmütigen Erinnerung an eine unerfüllt gebliebene Jugendliebe gleicht).

Nun noch kurz zum zweiten Teil der Eingangsfrage: Wie tief reicht das? Was überwiegt, der Hass oder die Liebe? Und daraus folgend: Ist das für lange?

Maria Snegurowa, eine russische Politologin, die in den USA arbeitet (und der ich den obigen Hinweis auf Georg Kennan verdanke), kommt in einem kürzlich veröffentlichten Artikel zu dem Schluss, der russische Antiamerikanismus sei „real and sincere“ und … that the beliefs of the elite will probably stay the same, as they are based on deep psychological and historical grounds“. Ich bin da skeptischer, also optimistischer.

Das hat mehrere Gründe. Zum einen gibt es Phasen in der russischen Geschichte, in denen das nicht so war. Dazu gehört, siehe oben, interessanterweise die Zeit direkt nach der Oktoberrevolution und vor Stalin, vor allem aber die Zeit vom Beginn der Perestrojka bis in Anfangsjahre der Präsidentschaft Wladimir Putins. Zum zweiten mischt sich die Ablehnung der USA traditionell mit reichlich Bewunderung. Die USA sind zwar in dieser Wahrnehmung einerseits westlich dekadent und ein Gegner Russlands, aber ein durchaus würdiger Gegner. Zum Dritten, und das scheint mir am Wichtigsten, gibt es in der Bevölkerung (weniger in den politischen Eliten) eine „ungebrochene Basisidentifizierung“ (so Lew Gudkow vom Lewada-Zentrum) mit dem Westen. Die EU und auch die USA bleiben (wieder Gudkow) die „Utopie eines normalen Lebens“. Selbst die massive Propaganda der vergangenen etwa 10 Jahre hat diese „Basisidentifizierung“ nicht brechen können. Kaum lässt die Propaganda nach, bessert sich in Umfragen das Image der USA deutlich und nähert sich wieder den vom Lewada-Zentrum gemessenen langjährigen, überwiegend positiven Durchschnittswerten an. Es besteht also Grund zur Hoffnung.