Über Tabus, Glasnost und Antiglasnost

Die beiden ersten russischen Worte (nach „da“, „net“, „na sdorowje“ und „Sputnik“), die ich gelernt habe, waren Perestrojka und Glasnost, „Umbau“ und „Offenheit“. Ich konnte damals, in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre noch kein (Wort) Russisch und mit Russland, also der Sowjetunion, war ich auch nur so weit bekannt, wie es eben politisch interessierte und engagierte Menschen ohne speziellen Russlandbezug im Westen waren, also nicht besonders. Folglich dachte ich (und denke heute, dass ich damit im Mainstream lag), Perestrojka sei wichtiger als Glasnost. Das war natürlich Unsinn. Denn selbstverständlich war die neue Offenheit, das langsame, schrittweise, zuerst weit mehr von oben gesteuerte als von unten geforderte Aufheben von Tabus, die Voraussetzung für den Umbau. Der Umbau aber war nötig und eben deshalb hatten sich Teile der Führung der Sowjetunion mit dem neuen Generalsekretär Michail Gorbatschow an der Spitze, dazu entschlossen.

Was ursprünglich wohl vor allem ein Versuch war, den inneren Widerstand gegen Veränderungen innerhalb des sowjetischen Herrschaftsapparats mit Hilfe des von den politischen Entscheidungen ausgeschlossenen Volkes (noch nicht: Gesellschaft) zu brechen (oder zumindest zu umgehen), geriet recht schnell außer Kontrolle. Jedes vom Staat aufgehobene (das überwog zuerst) oder (später immer öfter) von den Menschen gebrochene Tabu erzeugte damals, vor nun schon 30 Jahren, große öffentliche Resonanz. Es gab ein ganz offensichtlich überbordendes Bedürfnis nach Wissen („Wir wollen wissen“ war 1987/88 eine der meistgebrauchten Losungen auf den nun möglichen Demonstrationen und Versammlungen jenseits der Parteikontrolle), etwas pathetischer ausgedrückt, nach Wahrheit.

Heute gibt es dagegen in Russland viele Wahrheiten, aber sie zu kennen, ändert fast nichts (mehr). Während vor 30 Jahren die ans Licht gekommenen Dinge von den Menschen (be)gierig aufgenommen wurden, es buchstäblich einen großen Durst nach Wahrheit und Wissen gab, verpuffen heute selbst die skandalösesten Informationen über die Mächtigen des Landes fast wirkungslos. Damals wollten die Menschen über die bis dahin beschwiegene und verborgene Vergangenheit reden, auch und vor allem über das, was weh tat, über die schwarzen Flecken dort, also: über den (stalinistischen) Terror, über die Korruption in der Machtelite und, weil seinerzeit aktuell und brennend, über den Krieg in Afghanistan und seine Toten (sowjetischen Soldaten). Heute ist dieses Verlangen fast erloschen. Kaum jemand möchte mehr Schlechtes über die (eigene) Vergangenheit wissen. Es herrscht umgekehrt ein weit verbreitetes und vom Staat geschürtes Bedürfnis nach positiver Selbstvergewisserung. Patriotimus, sagt Präsident Putin, sei die „einzig mögliche nationale Idee“ für Russland und erntet damit viel Zustimmung.

Diese Umkehr kam nicht plötzlich. Es war von Anfang an Teil der von Putin bei seinem Amtsantritt als Präsident ausgerufenen Stärkung der Machtvertikale, den Offenheitsgeist wieder in die Flasche zu bekommen. Nur so, argumentierte er, könne das Land vor dem Zerfall bewahrt werden. Stück für Stück wurde immer mehr in Russland erneut für geheim, für nicht genehm, für dem Staat gefährlich erklärt. Stück für Stück, erst langsam, dann immer schneller, schlossen sich die Türen der Archive wieder und kehrten die Tabus zurück. Erneut war der Staat der Initiator und Treiber. Aber erneut traf diese Umkehrung auch auf ein Bedürfnis in der Bevölkerung. Dabei geht es dem Staat (und den Menschen) nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie darum, das Schlechte in der Vergangenheit erneut zu verbergen, als vielmehr, die Vergangenheit insgesamt mit neuem, positivem Sinn zu versehen. Allerdings geschieht das nicht durch eine intensive Beschäftigung und damit gedanklichen und emotionalen Duchdringung der vergangenen Verbrechen, sondern damit, sie zu relativieren und dadurch, mit der Zeit, zu verdrängen. Die Monster werden gebannt. Aber sie bleiben.

Dieser Prozess verläuft zweigleisig. Neben der Wiedererrichtung alter Tabus tauchen auch zahlreiche neue auf. Die alten haben meist etwas mit zwar überkommenen, aber deshalb längst nicht altmodischen Herrschaftstechniken zu tun, also vor allem mit den Geheimdiensten. Die neuen dagegen sollen nicht nur Herrschaft sichern, sondern dienen viel mehr dazu, den Widerspruch zwischen dem vom Kreml behaupteten Allgemeinwohl auf der einen und der schamlosen Bereicherung der neuen Staatselite und ihrer staatspolitischen und wirtschaftlichen Unfähigkeit auf der anderen Seite zu verbergen.

Einige der Tabus sind gesetzlich abgesichert oder werden durch neu geschaffene Gesetze durchgesetzt. Manchmal sind die neuen Gesetze zielgerichtet, wie z.B. das sogenannte NGO-Agentengesetz. Oft ist anfangs aber gar nicht klar, wozu ein neues Gesetz dient oder dienen soll. Oder Gesetze sind für, wie das bei Militärtechnik heißt, Dual Use ausgelegt, können also so (rechtsstaatlich) als auch anders (unrechtmäßig) genutzt werden. Ein gutes Beispiel ist das „Gesetz über die Bekämpfung extremistischer Tätigkeit“. Es wurde anfangs überwiegend an der Grenze zwischen Terrorismus und politischem Extremismus angewandt. Inzwischen werten Staatsanwaltschaft und Gerichte (fast) alles als extremistisch, was in Opposition zum Kreml steht. Wie weitsichtig der Kreml dabei bis vor einigen Jahren vorging, ist schwer zu sagen; oft zeigte sich erst in der Praxis, wofür ein Gesetz alles nütze sein kann. Nach dem Protestwinter 2011/2012 wurden allerdings mehr als 30 neue Gesetze geschaffen, deren Hauptzweck von Anfang an die Einschränkung von politischer Opposition ist. 

Die Grenzen des Gestatteten, die Grenzen der Tabus wurden also seit 2000 immer enger gezogen. Nun müssen Tabus aber in einer Gesellschaft auch verstanden werden. Da die Staatsführung weiter darauf besteht, Russland sei ein demokratischer Rechtsstaat (nur eben mit einigen im „Russentum“ oder einem mythischen „russischen Volkscharakter“ gelegenen Besonderheiten) und da – zumindest in Umfragen – weiterhin eine Mehrheit der Menschen im Land glaubt, dass das auch so ist, können viele Tabus nicht einfach beim Namen genannt werden. Niemand aus der Staatsspitze kann hingehen und verkünden, dieser dürfe sich korrupt bereichern, jener aber nicht dagegen protestieren, obwohl alle (trotz der überbordenden Propaganda der vergangenen Jahre) wissen, dass das so ist.

Aber natürlich schauen die Menschen genau hin und hören genau zu, was erlaubt ist und was nicht. Das zu wissen, gehört zum (mehr oder weniger guten) Überleben. Wissen muss gelernt werden. So gesehen, sind die Menschen in Russland aufmerksame Schüler.

Besonders lehrreich war in dieser Hinsicht die erste Dezemberwoche im vergangenen Jahr, in der (nicht nur aus Tabusicht) zwei Ereignisse hervorragten. Erst veröffentlichte der Politiker und Antikorruptionskämpfer Alexej Nawalnyj einen Film über die korrupten Geschäfte der Söhne von Generalstaatsanwalt Jurij Tschajka und ihre Verbindungen zu einer der brutalsten Verbrecherbanden der neueren russischen Geschichte. Ein paar Tage später wurde der oppositionelle Aktivist Ildar Dadin als erster aufgrund eines erst jüngst verabschiedeten Gesetzes zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt, weil er „mehrfach“ ohne Genehmigung demonstriert hatte und dafür zu kleineren Geldstrafen verurteilt worden war.

Zu Tschajka hat sich, einige Tage nach der Veröffentlichung des Videos, Putins Pressesprecher geäußert. Das sei alles nicht neu und für den Kreml nicht interessant, sagte Dmitrij Peskow. Kurz: Der Kreml weiß, dass geklaut und gemordet wird, hat aber nichts dagegen, wenn das die eigenen, die richtigen Leute tun. Getreu dem in Russland sprichwörtlichen Motto „Den Freunden alles, den Feinden das Gesetz“, riskiert dagegen in Haft zu landen, wer gegen staatliche Entscheidungen (und dazu gehört auch die Entscheidung, bestimmte Verbrechen nicht zu verfolgen) protestiert und damit, wie Ildar Dadin, ein Verfassungsrecht in Anspruch nimmt.

Das Augenfälligeste Anfang Dezember war das zeitliche Aufeinandertreffen dieser beiden Ereignisse. Allein genommen wären sie nichts Besonderes. Dem Chef des Staatlichen Ermittlungskomitees (einer Art russischer FBI) Alexander Bastrykin werden Verbindungen zu einer „russischen Mafia“ in Spanien nachgesagt. Veröffentlichungen von Wikileaks legen die Vermutung nahe, dass der russische Staat sich Strukturen aus dem organisierten Verbrechen für „dreckige Arbeit“ bedient. Der tschetschenische Republikschef Ramsan Kadyrow ruft kaum verhohlen zur Jagd auf Oppositionspolitiker auf.  Die Kinder vieler hochgestellter Politiker, wie die Tochter des Verteidigungsministers Sergej Schojgu häufen schon in jungen Jahren enorme Vermögen an oder sitzen in hohen Führungspositionen bei Staatskonzernen. Und unlängst wurde gar Präsident Putin selbst von einem Untersuchungsbericht des US-Kongresses mit systematischer Korruption in Verbindung gebracht. All das ruft im Kreml nur Achselzucken hervor und die Justizbehörden nehmen meist nicht einmal Notiz davon.

Auf der anderen Seite wächst die Zahl der politischen Verfahren und der politischen Gefangenen. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen (z. B. von Memorial oder der Union zur Solidarität mit politischen Gefangenen) sitzen zur Zeit mindestens 59 Menschen aus politischen Gründen in russischen Gefängnissen und Lagern. Gegen 24 weitere Menschen hat die russischen Justiz aus politischen Gründen Ermittlungsverfahren angestrengt.

All das ist in Russland weithin bekannt, aber der Protest dagegen bleibt auf eine kleine Bevölkerungsgruppe beschränkt. Die meisten Menschen ziehen es vor, solche Informationen kaum zur Kenntnis zu nehmen. Und wenn doch, dann hat das keine Folgen, denn es bestätigt für sie nur, was ohnehin alle wissen: Ja, es wird geraubt und gemordet. Ja, das machen Staatsanwälte, Politiker, Polizisten, Beamte. Ja, sie machen es zusammen mit richtigen Banditen. Und ja, daran kann man nichts ändern.

Präsident Putin ist vor 16 Jahren ausdrücklich angetreten, ich habe das oben schon erwähnt, um einen starken, vertikal integrierten Staat zu schaffen, der den großen zentrifugalen Kräften in den 1990er Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion widerstehen kann. Er traf damit ein in der Bevölkerung weit geteiltes Interesse. Der Verwaltungsapparat sollte also in Ordnung gebracht und effektiver (eines von Putins Lieblingswörtern) gemacht werden. Korruption sollte bekämpft werden und die regionalen Eliten sollten erneut dem Moskauer Willen unterworfen werden. Dazu wurden demokratische Freiheiten und staatsbürgerliche Beteiligungsrechte nach und nach bis zur Unkenntlichkeit beschnitten. Die meisten Leute nahmen es hin, weil das (richtige) Ziel ihrer Meinung nach die Mittel rechtfertigte. Doch heraus gekommen ist ein fragmentierter, von einer zutiefst korrupten Bürokratie beherrschter Staat, der nach einem Höhepunkt in den 2000er Jahren erneut desintegrierend wirkt.

Recht, soweit es sich in den 1990er Jahren und auch noch, in einer Art trägen Bewegung, in den ersten Putinjahren zumindest in einigen Bereichen (vor allem im Zivil- und im Wirtschaftsrecht) durchgesetzt hatte, wurde inzwischen mehr und mehr durch das ersetzt, was im Russischen „schit po ponjatijam“ (auf Deutsch etwa: „Leben nach Ehrbegriffen“) genannt wird. Das sind die ungeschriebenen, aber dennoch eisernen Regeln der russischen Verbrecherwelt. Sie haben das Land im Griff. 

Fast sieht es so aus, als sei das Land wie nach einer Zeitreise wieder in der Mitte der 1980er Jahre angekommen.