(Wirtschafts)Krise und Protest in Russland

Vor zwei Monaten habe ich hier die Frage gestellt, warum es – trotz Wirtschaftskrise – bisher keine nennenswerten sozialen Proteste in Russland gegeben hat: „Nun sind wir im Jahr sieben der Wirtschaftskrise und der einzige, zugegebenermaßen (zu) kleine Aufstand war der des Protestwinters 2011/2012 aufgrund der Wahlfälschungen und Putins Rückkehr ins Präsidentenamt. Nennenswerte soziale Proteste sind ausgeblieben und, so sehen es heute erneut die allermeisten Beobachter, werden auf absehbare Zeit ausbleiben.

Meine Antwort auf die selbstgestellte Frage war, kurz gesagt, dass bisher der „Fernseher über den Kühlschrank“ gewonnen habe. Die Propaganda des Stolzes ist (zumindest vorerst) stärker als die Furcht oder der Ärger wegen des sinkenden materiellen Lebensstandards. Nun möchte ich ein bisschen näher darauf eingehen, warum das so ist und wie nachhaltig das sein kann.

Dazu muss man sich erst noch einmal die Putinsche Propaganda anschauen. Sie setzt sich aus unterschiedlichen, teilweise miteinander verzahnten, sich teilweise aber auch widersprechenden ideologischen Elementen zusammen. Ich will drei von ihnen, die ich für die wichtigsten halte, hier kurz nennen.

Da ist zuerst die Idee einer gedemütigten und zudem geteilten Nation. Gedemütigt angeblich durch den Westen in einer Zeit der russischen Schwäche nach der Auflösung der Sowjetunion. Geteilt, weil sich, nach Lesart des Kreml, seither etwa 50 Millionen ethnische Russen (oder besser: Menschen, die aus Moskauer Sicht ethnische Russen sind und sich auch als Russen fühlen) außerhalb der Russischen Föderation, des neuen russischen „Vaterlandes“ wieder gefunden haben. Lange Zeit hatte sich der neue russische Staat um diese, wie sie im russischen Sprachgebrauch heißen, „Landsleute“ nicht besonders gekümmert. Seit einiger Zeit aber hat der Kreml sie als politische Ressource entdeckt. Putin klagt, die Russen seien die „größte geteilte Nation“ dieser Welt. Mit ihrem behaupteten schweren Schicksal in den Ländern, in denen sie leben, ihrer behaupteten und oft einer dort angeblich anzutreffenden grundsätzlichen „Russophobie“ zugeschriebenen Diskriminierung lässt sich, wie die Erfahrung zeigt, in Russland sehr gut Stimmung machen.

Das zweite Element ist Geopolitik. Die Welt wird vom Kreml ausschließlich als geopolitischer Kampf um Überleben und Einfluss dargestellt. Alle anderen Staaten sind damit potentiell oder tatsächlich feindlich. Die Nation muss folglich einig sein, um in dieser darwinistischen Welt, in der nur Starke überleben, nicht unterzugehen, denn sie befindet sich immer im Krieg (als Begründung dient auch ein ins Endlose erweitertes Kriegsverständnis, das jede politische Auseinandersetzung, jeden Interessensunterschied zum „Krieg“ erklärt). Wer also diese Einigkeit stört oder gefährdet, den Staat (die Staatsmacht, wie es auf Russisch heißt) kritisiert, wird zur „5. Kolonne“ erklärt (wobei manchen zugestanden wird, sie seien nur „nützliche Idioten“, während anderen vorgeworfen wird, „bezahlte Agenten“ zu sein) die also das Spiel des Feindes betreibe.

Das dritte Element könnte man Neotraditionalismus nennen. Es ist der (vor allem, aber nicht nur) rhetorische Versuch, aus der (als westlich empfundenen und als westlich verunglimpften) Moderne wieder auszusteigen. Fast alles, was eine tolerante und offene Gesellschaft ausmacht, wird vom Kreml als unrussisch, nicht zu den Traditionen des Landes passend abgelehnt und bekämpft.

Alle drei Elemente werden in der Propaganda vorwiegend anti-westlich (oder genauer: anti-US-amerikanisch) interpretiert und inszeniert. Mit ihnen einher geht der Versuch, jeder inneren Differenzierung der russischen Gesellschaft die Legitimität abzusprechen. Insofern hat diese Mischung durchaus eine totalitäre Note, auch wenn Russland (noch) weit davon entfernt ist, insgesamt ein totalitärer Staat zu sein.

Nun ist antiwestliche Propaganda auch im nachsowjetischen Russland nichts Neues. Anti-westliche, vor allem anti-US-amerikanische, weitgehend durch staatliche Propaganda erzeugte Mobilisationswellen hat es spätestens seit Ende der 1990er Jahre regelmäßig gegeben (ich stütze mich hier und im Folgenden auf Zahlen aus einem Vortrag von Lew Gudkow, Direktor des Lewada-Zentrums, beim von Memorial und der Heinrich Böll Stiftung organisierten „Grünen Russlandforum“ Anfang Dezember in Moskau).

1999 begann es mit der Bombardierung serbischer Städte durch die NATO, die damit wohl einen Völkermord an der und die vollständige Vertreibung der albanischen Bevölkerung aus dem Kosovo verhinderte. Das wiederholte sich 2003 aus Anlass des Irakkriegs (ausgenommen blieben damals Frankreich und Deutschland, weil sie sich nicht beteiligten) und 2008 im Kontext des kurzen Krieg mit Georgien. In allen diesen Fällen war die öffentliche Missbilligung des Westens (oder seiner Handlungen) aber nicht von Dauer. Recht schnell zeigte sich in Umfragen erneut eine mehrheitlich positive Einstellung der Menschen in Russland zu den USA und den EU-Ländern.

Allerdings ist etwa seit 2007 zu beobachten (Schlüsselereignis war die berühmte Münchner Rede von Wladimir Putin), dass die Sympathiewerte für den Westen auch jenseits der (Beziehungs-)Krisen nicht mehr die vorherige Höhe erreichen. Mit dem politischen Rollback gegen die demokratische Opposition im Land und den Westen als äußeren Feind nach dem Protestwinter 2012/2013 und noch einmal zunehmend seit der Maidan-Revolution in der Ukraine und der Annexion der Krim durch Russland verstärkte sich der Abwärtstrend. Der Grund dürfte einerseits in der seither kaum nachlassenden staatlichen Propaganda zu suchen sein, die nach den früheren Krisen meist recht schnell weitgehend wieder eingestellt wurde. Andererseits gibt es aber wohl auch einen langfristigen Akkumulationseffekt.

Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass das Lewada-Zentrum gleichzeitig eine kontinuierliche und bis heute ungebrochene Basisindentifizierung (wie das Lew Gudkow nennt) mit dem Westen feststellt. Nordamerika und die EU bleiben die leitende „Utopie eines normalen Lebens“. Aber gleichzeitig zeigen die Umfragen das „Wissen“, dort mit dem eigenen Land nicht hinzugelangen. Als Folge wird der Westen als Lebenskonzept negiert, denunziert und die eigene Unzulänglichkeit auf ihn übertragen. Psychologisch gesehen wohl eine Art Schutzreaktion.

Bisher schlägt also, ich wiederhole mich, der Fernseher den Kühlschrank. Oder anders: Die Großmacht schlägt das Wohlsein. Doch wie lange bleibt das (noch) so, wenn dem Staat das Geld ausgeht? Auf diese Frage gibt es wohl keine theoretische Antwort. Es gibt aber eine ganze Reihe von Hinweisen darauf, dass es für den Kreml in den kommenden Jahren schwieriger werden dürfte.

Das wissen die Verantwortlichen dort natürlich auch, und sie versuchen Vorsorge zu treffen. Ein Teil der Vorsorge sind immer neue, repressive Gesetze (von denen aber hier ausnahmsweise einmal nicht die Rede sein soll), für den Fall der Fälle. Besser aber wäre es, auch aus Kremlsicht, wenn dieser (also neue Massenproteste von wem auch immer, weswegen auch immer) erst gar nicht einträfe. Doch das könnte schwierig werden. Dem Staat ist mit dem (wohl vorerst dauerhaft) niedrigen Ölpreis das Geschäftsmodell abhanden gekommen. Er muss es ändern. Bisher finanziert sich der russische Staat sozusagen an seinen Bürgern vorbei. Der größte Teil der Einnahmen kommt aus dem Verkauf von Erdöl, Erdgas und anderen Rohstoffen. Steuern und Abgaben, die bei der Bevölkerung direkt erhoben werden, sind entsprechend niedrig.

Da die Rohstoff-Rente aber immer kleiner ausfällt, braucht es Ersatz. Das können nach Lage der Dinge nur höhere Steuern und Abgaben sein. Höhere Steuern und Abgaben gefallen aber nirgendwo auf der Welt, wenn es dafür staatlicherseits nicht eine gute und allseits akzeptierte Begründung gibt. Solch eine Begründung könnte zum Bespiel eine umfassende und gut funktionierende Daseinsvorsorge sein, wie in den skandinavischen Ländern. Davon kann aber in Russland keine Rede sein. Im Gegenteil: In der Bevölkerung herrscht die durch Erfahrung und Realitätssinn gestützte Überzeugung, dass die Menschen im Land dem russischen Staat ziemlich egal sind. Daher die oben beschriebene Propaganda nach dem Motto „bei uns ist es zwar schlecht, aber anderswo ist es auch nicht besser, dafür aber fremder und feindlicher“. Das funktioniert bisher, bleibt aber heikel.

Beim Erschließen neuer Finanzierungsquellen geht der Kreml geht daher sehr vorsichtig vor. Er arbeitet sich sozusagen von außen nach innen vor und versucht zu vermeiden, einen direkten Zusammenhang zwischen Abgaben- und Steuererhöhungen und der Krise seines Geschäftsmodells herzustellen. Beim ersten Versuchsballon hat das noch funktioniert. Seit Anfang des Jahres müssen Wohnungsbesitzer (und das ist eine große Mehrheit der Menschen in Russland) in vielen Regionen, darunter in Moskau, einen monatlichen Pro-Quadratmeter-Betrag für die sogenannte Grundrenovierung ihrer Häuser bezahlen. In Moskau erreicht dieser Betrag leicht die Hälfte der Nebenkosten. Zwar gab es Versuche aus der Bevölkerung, sich gegen diese Zwangszahlung zu wehren, aber sie blieben zaghaft und individuell. Manche zahlen einfach nicht und kommen (bisher) damit durch. Auch ein Zeichen, dass dem Staat nicht ganz Wohl ist bei diesem Unterfangen.

Der nächste Schritt verläuft schon weniger ruhig. Seit Mitte November gibt es auch in Russland eine Schwerverkehrsabgabe. Lastwagen ab 12 Tonnen müssen für jeden auf föderalen Straßen gefahrenem Kilometer zahlen. Das dazu gehörige Abrechnungssystem hört auf den schönen Namen Platon. Fernfahrer aus dem ganzen Land protestierten in Sternfahrten. Einzelhändler warnten vor Preiserhöhungen und in Umfragen sprachen sich 70 Prozent der Menschen gegen Platon aus (dass ein Sohn der milliardenschweren Putin-Kumpel Gebrüder Rotenberg die Lizenz zum Geldeinsammeln bekommen hat, macht die Sache nicht besser). Auch hier reagiert der Staat eher zurückhaltend, macht kleinere Kompromisse und setzt ganz offenbar auf einen Abnutzungs- und Gewöhnungseffekt. Erschwerend für den Staat kommt hinzu, dass Fernfahrer wenig in das Bild einer satten, verwestlichten Mittelklasse passen, die recht leicht eines westlichen Unrussentums geziehen werden kann.

Der nächste Schlag folgt bald. Genauer: Er ist schon Gesetz und geht erneut gegen Wohnungs-, Haus- und Landbesitzer. Ab ersten Januar 2016 steigen die Grundsteuern um ein Mehrfaches, im (wahrscheinlich gar nicht so seltenen) Extremfall bis auf das Zehnfache. Zugegeben, bisher lag der sogenannte „technische Inventarisationswert“, der der Steuerfestsetzung zugrunde lag, weit unter dem Marktwert einer Immobilie. Doch nicht nur die absolute Höhe der Zahlen wird für Unruhe sorgen, sondern die enormen Steigerungsraten bei gleichzeitig fallen Löhnen und Immobilienpreisen.

Gleichzeitig spüren auch zwei Bevölkerungsgruppen, die zu den Stützen des Regimes gehören, die Haushaltskrise: Die Gehälter von Staatsangestellten (auf Russisch: „bjudshetniki“, also alle, deren Gehalt letztlich aus dem Staatshaushalt bezahlt wird, wie Lehrer oder Polizisten) und Soldaten wurden 2015 nicht mehr „indexiert“, d.h. sie wurden weit weniger als die Inflationsrate erhöht. Auch der Haushalt für 2016 sieht keine Indexierung vor. All diese Menschen, die bisher immer damit rechnen konnten, für ihre besondere Loyalität privilegiert behandelt zu werden, haben erstmals seit Beginn der 2000er Jahre reale Einkommensverluste hinzunehmen.

Führende Ökonomen bis hin zu Ministern aus dem Wirtschaftsblock halten Steuererhöhungen ohnehin für unumgänglich und sagen das auch öffentlich. Eine Reform der Einkommenssteuer könnte, wenn denn eine progressive, mit dem Einkommen ansteigende Steuerrate eingeführt würde, sogar eine gewisse Popularität für sich in Anspruch nehmen: Die gegenwärtige, seit 2001 geltende 13-prozentige Flatrate gilt vielen als unsozial. Allerdings würde allein eine andere Verteilung der Steuerlast kaum etwas bringen. Die Einkommenssteuer müsste auch insgesamt erhöht werden.

Ein viel ernsthafteres Problem für den Staat ist aber die immer größer werdende Lücke in der Rentenkasse. Ein im Vergleich zu anderen Ländern als sowjetisches Erbe immer noch sehr niedriges Renteneintrittsalter (Frauen mit 55, Männer mit 60) bei gleichzeitigem rapiden Sinken der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter (um 600.000 bis 800.000 Menschen jährlich) und einem grundsätzlich ja erfreulichen, wenn auch eher langsamen Anstieg der Lebenserwartung haben sie schon längst aus dem Lot gebracht. Für 2016 reichen die staatlichen Reserven noch, um die Rentenkasse zu bezuschussen, vielleicht auch noch 2017, aber spätestens dann wird es sehr eng, sollte es mit der Wirtschaft nicht besser werden (was zwar manche Wirtschaftsfachleute noch hoffen, womit aber niemand wirklich rechnet).

Genau bis dahin muss es aber reichen. Im September 2016 sind Dumawahlen, im März 2018 Präsidentenwahlen. Trotz des extrem hohen Ratings von Präsident Putin sind das keine Selbstläufer. Alle erinnern sich an die Dumawahlen 2011 und die Präsidentenwahlen 2012 mit den sie begleitenden Protesten. Allein deshalb soll so wenig wie möglich offen gefälscht werden. Das aber kostet. Daher dürfte der Staat alle auch nur irgendwie verfügbaren Ressourcen zusammenkratzen, um ohne nennenswerten Schrammen über diese beiden Wegmarken zu kommen. Die Rechnung wird danach kommen. Doch so weit reicht erstens der Planungshorizont nicht. Und zweitens können ja nach den Wahlen die Schrauben weiter angedreht werden.

Auch deswegen werden großflächige (egal, ob nun soziale oder politische) Proteste bis 2018 wohl ausbleiben. Kleinere Unruhen, wie der gegenwärtige Fernfahrerminiaufstand, dürften mit den bewährten Methoden beherrschbar bleiben.