Gedanken zum Mord an Boris Nemzow

Bereits eine Woche nach dem Mord an Boris Nemzow präsentierten der Inlandsgeheimdienst FSB und das Strafermittlungskomitee am vergangenen Wochenende einige Tschetschenen als mutmaßliche Täter und Organisatoren. Sie wurden im Nordkaukasus festgenommen und verhört. Einer von ihnen, sein Name wird mit Saur Dadajew angegeben, soll seine „Beteiligung“ am Mord bereits gestanden haben. Unter welchen Umständen, ist unklar. Gegenüber der Tageszeitung „Moskowskij Komsomolez“ hat er inzwischen wieder widerrufen, auch gibt es Foltervorwürfe.

Dadajew war bis vor kurzem (jedenfalls laut Tschetschenenchef Ramsan Kadyrow) Leutnant im sogenannten „Bataillon Sewer“, einer armeeartigen Einheit, die formal dem russischen Innenministerium untersteht, faktisch aber von Kadyrow allein kommandiert wird und so etwas wie seine Leibgarde ist. Dadajew soll die tödlichen Schüsse auf Nemzow abgefeuert haben. Hintermänner soll es angeblich keine geben. Die nun Festgenommenen hätten die Tat allein geplant und durchgeführt, ließen die Ermittlungsbehörden Anfang der Woche wissen.

Nun ist bei schnellen Fahndungserfolgen in Russland immer Vorsicht geboten. Umso mehr, wenn es sich um ein politisches Verbrechen handelt (woran niemand, aber auch wirklich niemand zweifelt) und vor allem, wenn sie mit Geständnissen einhergehen. Gänzlich ungewollt kommt einem sofort das berühmt-berüchtigtes Wyschinskij-Bonmot (Wyschinskij war Stalins Generalstaatsanwalt) vom Geständnis als der „Zarin der Beweisführung“ in den Kopf, samt der Folterkeller des NKWD. Also kein Glaube ohne Beweise – und die sind bisher dünn bis nicht vorhanden, zumindest wurden sie der Öffentlichkeit nicht vorgelegt. Überhaupt passt die sogenannte „tschetschenische Spur“ viel zu gut in des Kremls Konzept, um so ohne weiteres geglaubt zu werden.

Es hat wenig Sinn, die vielen mehr oder weniger plausiblen Versionen („Theorien“ kann man sie zu diesem Zeitpunkt angesichts der dünnen Faktenlage noch kaum nennen) zum Tathergang, den Tätern und ihren Hintermännern zu diskutieren. Es gibt weit mehr Fragen als Antworten (Andrej Illarionow hat viele von ihnen in seinem Blog auf der Website des Radiosenders Echo Moskaus zusammengefasst).

Selbst einmal angenommen, der FSB, das Strafermittlungskomitee und all die anderen hätten einfach nur gut, neutral und schnell gearbeitet und mit den nun Festgenommenen tatsächlich die Täter ermittelt, würde das kaum jemand in Russland (und sicher auch nur wenige außerhalb des Landes) glauben. Zu politisiert sind die Strafverfolgungsbehörden in Russland. Zu oft, eigentlich ständig werden sie als Machtinstrument missbraucht. Das Vertrauen in sie war immer klein und ist unter Putin fast ganz verschwunden.

Das weiß man auch im Kreml und genau das erhöht nicht gerade das Interesse dort, es ausgerechnet diesmal anders (also nicht nur aus meiner Sicht besser) zu machen. Man kann folglich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass die nun präsentierten Verdächtigen nicht die Täter sind. Obwohl, ja obwohl wir das selbstverständlich auch nicht ausschließen können. Wir wissen es schlicht nicht, können es nicht wissen und, glaubt man der Meinung all der Menschen hier in Russland, mit denen ich in den vergangenen Tagen, seit dem Mord gesprochen habe, werden wir es auch nie erfahren. Da es keine Instanz oder Institution gibt, der eine ausreichende Anzahl von Menschen im Land zutraut, unvoreingenommen zu ermitteln, wird es darauf ankommen, wer wessen Version glaubt.

Was wir machen können, ist die politischen Folgen der Tat zu analysieren und uns zu fragen, was es bedeutet, dass gerade diese Täter mit gerade diesen Motiven vom Staat präsentiert werden. Wobei schon der Bezug auf einen einigen und sozusagen gemeinschaftlich handelnden Staat nicht wenig in die Irre führt. Viel wahrscheinlicher ist, dass unterschiedliche staatliche Akteure durchaus unterschiedliche Interessen haben und auch verfolgen. Schon das verweist auf die wichtige Frage, wieweit der Kreml, wieweit Putin die politischen Prozesse im Land (noch) kontrolliert.

Fangen wir mit dem tschetschenischen Republikschef Ramsan Kadyrow an. Schon kurz nach den Festnahmen schrieb Kadyrow in seinem Instagram-Account selbst etwas zur Tat und den Festgenommenen. Der Blogeintrag enthält eine steile, gewagte, ja wohl gar wagemutige These. Hier wird hier ein mutmaßlicher Mörder (Kadyrow geht in seinem Post implizit davon aus, dass die Festgenommenen die wahren Täter sind) als „Russland aufrichtig ergeben“ und als „tapferer Kämpfer“ charakterisiert, der bereits sei, „sein Leben für das Land zu geben“. Kadyrow wiederholt damit praktisch, was er nach den Morden an der Redaktion von Charlie Hebdo in Paris schon auf der Demonstration von mehreren Hunderttausend Menschen in Grosnyj gesagt hat: Wer „tiefgläubige Menschen“ beleidige, müsse damit rechnen, getötet zu werden – auch im Stadtzentrum von Moskau, könnte man hinzufügen. Und Kadyrow findet das gerecht und richtig. Kadyrow ist auch gegenwärtig der Einzige in Russland (außer Wladimir Putin natürlich), der sich solche Erklärungen trauen kann. Hier wird es allerdings schwierig.

In der russischen Diskussion gehen die Meinungen auseinander, ob Kadyrows Äußerungen seine Stärke zeigen oder ob er unter Druck ist. Die einen verweisen darauf, Kadyrow sei mit seiner mehr als 20.000 Mann starken, letztlich nur ihm ergebenen Prätorianergarde zu so etwas wie Putins „Opritschnik“ geworden. Die Opritschniki waren eine unter Iwan IV. (dem „Schrecklichen“) gegen die Bojaren, den alteingesessenen Adel, aufgestellte Truppe, die damals, im 16. Jahrhundert, mit allerlei Terror half, aus dem Zaren erst jenen Selbstherrscher zu machen, wie es dann, ab Peter dem Großen, alle Nachfolger Iwans waren. Dieser Interpretation zufolge sind der Mord an Nemzow, die „tschetschenische Spur“ und das Auftreten Kadyrows Warnung und Hinweis sowohl an die Putinschen Eliten als auch die Opposition, sich wohl zu verhalten. Der Unterschied zu Situation vor dem Mord ist, dass selbst Wohlverhalten (weder der Opposition, noch der Machtelite) nicht mehr weitgehende Unversehrtheit garantiert, dass sich also das Gewicht der Machterhaltungsmittel, die bisher mehr von Loyalität und materiellen Anreizen geprägt waren, deutlich in Richtung Angst und blanker Gewalt verschoben hat.

Andere heben hervor, die „tschetschenische Spur“ sei eher ein Zeichen dafür, dass Kadyrow den Bogen überspannt habe und ihm nun „sein Platz gezeigt“ werde. Kadyrows starke Worte wären dann zweierlei: eine Drohung Richtung Kreml, dass er so leicht nicht einzuschüchtern sei, aber auch ein Rückzugsgefecht.

Die „tschetschenische Spur“ könnte, so gesehen, entweder die Vorstufe zu Kadyrows Absetzung sein (was ich für sehr unwahrscheinlich halte), oder ein deutlicher Hinweis auch an ihn selbst, sich künftig gefolgsamer zu geben. Kadyrow hat augenscheinlich verstanden, denn bereits am Dienstag veröffentlichte er auf Instagram eine Ergebenheitsadresse an Putin, die sich der romantische Autor eines an einem morgenländischen Hof spielenden Romans nicht hätte blumiger aus denken können. Es könnte aber auch sein, dass beide Seiten Recht haben. Der Kreml droht allen mit einem losgelassenen Kadyrow und zeigt ihm zugleich seine Grenzen auf.

Letztendlich hängt aber jede Interpretation von der Grundannahme ab, wer hinter dem Mord steht. Ist es der Kreml unmittelbar (hier schlösse sich die Frage an, inwieweit die Begriffe „Kreml“ und „Putin“ weiter ein und dasselbe sind)? Oder Teile dessen, was wir „Kreml“ nennen, die andere Teile wissen lassen, dass man sich nur ja nicht auf einen Deal mit dem Westen einzulassen solle? Oder gut organisierte Nationalisten nicht unmittelbar aus der Machtelite, die, mit Hinweis auf das in der Ostukraine gelassene Blut, nun „Mitsprache“, wenn nicht ein Bestimmungsrecht für den weiteren politischen Weg einfordern? Die Fragereihe ließe sich lang in Richtung zunehmender Unwahrscheinlichkeit bis zur Absurdität fortsetzen.

Eine der wichtigsten Vorhaben des Kremls dürfte nun sein, eine Version durchzusetzen, die vor allem eines zeigt: dass alles weiter unter Kontrolle ist. Die Zweifel daran sind seit dem Mord an Boris Nemzow so groß und verbreitet, dass sie den Machterhalt zu gefährden beginnen. Diesem Ziel dient die nun gewählte Erzählung von einer „verständlichen Empörung“ der Täter, über den Islam angeblich beleidigende Aussagen oder Handlungen des Opfers. Da der russische Staat bei aller Willkür aber immer darauf achtet, sich als Rechtsstaat darzustellen und die entsprechenden Normen wenn schon nicht zu beachten, so doch ihre Beachtung zumindest vorzutäuschen, darf dieser Mord aber bei aller „Verständlichkeit“ nicht zugelassen werden. Die Mörder müssen bestraft werden.

An dieser Stelle trifft sich übrigens das Interesse des Kreml mit den Bedürfnissen großer Teil der Gesellschaft, die Opposition eingeschlossen. Tatsächlich wäre es am wenigsten beunruhigend für (fast) alle, der Kreml stünde hinter allem und wäre also Treibender und nicht Getriebener weit schrecklicher Kräfte als die bisher schon losgelassenen. Wobei letzteres Wort nicht ausreichend genau ist. Denn es geht schon längst nicht mehr um im Prinzip domestizierte Kräfte, die wie eine Hundemeute auch wieder zurück gepfiffen werden können. Vieles deutet darauf hin, und von vielen wird der Mord an Nemzow in diese Richtung gedeutet, dass sich die von der staatlichen Propaganda im vergangenen Jahr entfesselte Hasswelle gegen jede Opposition, deren Denunzierung als „verräterisch“, als „feindlich“, ja als lebensgefährlich für das Land längst verselbständigt hat.

Wahrscheinlich wird es nicht ausreichen, nur mehr oder weniger glaubwürdig Schuldige zu präsentieren und zu verurteilen. Schon gar nicht, wenn die gegenwärtige Version der Ermittlungsbehörden, dass es keine Hintermänner gebe, beibehalten wird (und wie sollte sie nicht, da doch ausreichend einflussreiche Hintermänner zu bestrafen sehr viel schwieriger zu beherrschende politische Folgen haben könnte). In einem Land, in dem die staatliche Propaganda hinter allem und jedem versteckte Strippenzieher behauptet, ist das völlig unglaubwürdig.

Der Mord an Boris Nemzow hat die politische Entwicklung in Russland, die ohnehin im vergangenen Jahr in erhebliche Bewegung geraten ist, noch einmal dynamisiert. Momentan weiß niemand, wie es weiter geht, aber alle erwarten, dass bald irgendetwas Bedeutendes passiert. Doch was auch immer das auch sein wird (eine neue Verschärfung des Kriegs in der Ukraine, ein größeres Revirement im Kreml, ein Wechsel des Regierungschef, eine neue Repressionswelle im Inneren), die Angst, dass es künftig jeden treffen kann, ist nun da. Niemand kann sich mehr sicher fühlen.

Das passt dem Kreml einerseits ins Konzept. Wie immer wird sich Putin als die rationale Alternative zum (unaussprechlich) Schrecklicheren darzustellen versuchen, sozusagen als das Beste, das auch für die Opposition und den Westen vernünftigerweise aus Russland zu erwarten ist. Ich fürchte, das wird auch diesmal wieder gelingen. Aber es wird andererseits kaum reichen, die dreifache Dynamik aus Wirtschaftskrise, Konfrontation mit dem Westen und selbst geschürten, immer aggressiveren nationalistischen Heilserwartungen zu kanalisieren und zu kontrollieren.