Zweites Urteil gegen Alexej Nawalnyj

Kaum jemand, übrigens auch nicht in Russland und unter Putin-Unterstützer/innen, zweifelt daran, dass die Urteile gegen Alexej Nawalnyj (dreieinhalb Jahre auf Bewährung) und seinen Bruder Oleg Nawalnyj (dreieinhalb Jahre ohne Bewährung) politische urteile sind. Alexej Nawalnyj wurde dafür verurteilt, öffentliche politische Opposition nicht zu lassen (und darin auch noch gut zu sein). Oleg Nawalnyj wird vom russischen Staat (in seiner heutigen Gestalt) in Geiselhaft genommen, um seinen Bruder zum Einlenken zu bewegen.

Das Gerichtsverfahren war eine Farce. Die Urteilsverkündung wurde in aller Eile vorgezogen, um eine sich ankündigende große Protestdemonstration am 15. Januar 2015, dem ursprünglich vom Gericht genannten Datum der Urteilsverkündung. Das ist gelungen, auch wenn gestern Abend wohl gut 5.000 Demonstrant/innen auf den Manegenplatz direkt am Kreml kamen. Da es sich um ein politisches Urteil handelt, sollte man davon ausgehen, dass der Kreml damit etwas sagen oder zumindest erreichen wollte. Aber was?

Eine mögliche Abschreckung Alexej Nawalnyjs wird es kaum gewesen sein. Zwar gibt es nun mit seinem Bruder im Gefängnis ein zusätzliches Druckmittel gegen ihn. In russischen Gefängnissen passiert Häftlingen sehr schnell etwas, wie zahlreiche Beispiele zeigen (das bekannteste ist der Fall des Anwalts Sergej Magnizkij, der Ende 2009 in Untersuchungshaft umkam). Und auch ohne spezielle Drohungen sind die Verhältnisse in russischen Gefängnissen eine ständige Gefahr für Leib und Leben ihrer Insass/innen. Aber erstens ist angesichts seines bisherigen Verhaltens kaum anzunehmen, dass sich Nawalnyj davon nachhaltig beeindrucken lässt. Zweitens weiß er, dass diesem russischen Staat nicht wirklich zu trauen ist. Kompromissbereitschaft führt nicht unbedingt zu mehr Sicherheit.

Noch wichtiger aber dürfte sein, dass der Kreml niemandem traut, also auch einem möglicherweise kompromissbereiten Alexej Nawalnyj nicht. Der Kreml und sein Herr vertrauen nur auf eins: eine Position der Stärke. Und Nawalnyj bleibt eine Gefahr, einfach, weil er da ist und politisches Talent hat. Das ist genau der Grund, warum gegen ihn vorgegangen wird. Er hat dieses politische Talent gezeigt und dazu gehört eben auch eine Mindesthärte, nicht auf jeden Druck gleich empfindlich zu reagieren.

Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass die Konstatierung von politischem Talent keinerlei Einverständnis mit den damit transportierten politischen Inhalten bedeutet. Auch Putin hat zweifelsohne großes politisches Talent. Das gilt im Übrigen auch für den Kreml Nawalynj gegenüber. Immer wieder, so auch jetzt erneut, wird in sozialen Netzwerken davor gewarnt, Nawalnyj sei ein „Kremlprojekt“ und kein „echter Oppositioneller“. Selbst wenn es so wäre (was ich nicht glaube, eher ist es so, dass die Warnungen davor aus dem Kreml kommen), würde das das Vertrauen in Nawalnyj nicht stärken. Er bliebe, aus Kremlsicht, eine potentielle Gefahr, die zumindest kontrolliert, am besten aber neutralisiert gehört. Wenn man so will, ist das das der Kern aller Machterhaltungsbestrebungen des Kremls: Alle potentiellen politischen Gefahren (egal ob nun tatsächlich, empfundene oder ausgedachte), müssen rechtzeitig beseitigt werden.

Wenn es also darum geht, die „Gefahr“ Nawalnyj zu neutralisieren, dann stellt sich mehrere Fragen: Warum bleibt er mehr oder weniger in Freiheit (er steht ja unter Hausarrest, aber ist eben nicht weit von Moskau in einem Lager weggesperrt)? Warum wurde das Schauspiel „Strafprozess“ erneut so schlecht und untalentiert aufgeführt? Warum reichte nicht die erste Verurteilung zu fünf Jahren auf Bewährung, wenn nun „nur“ eine weitere Bewährungsstrafe hinzukommt?

Die Frage nach dem dilletantischen Vorgehen stellt sich vor allem, wenn man, wie fast alle, davon ausgeht, dass wichtige politische Prozesse in Russland von ganz oben gesteuert werden. Und Nawalnyj ist wichtig. Dann gibt es eigentlich nur zwei Erklärungen: Es ist dem Kreml egal, beziehungsweise zeigt nur noch mehr seine Macht, dass er es sich leisten kann, nicht einmal mehr die Form zu wahren. Ja mehr noch, nicht die Form wahren zu müssen, sollte in diesem Fall alle Gegner/innen noch mehr einschüchtern. Oder aber, „von oben gesteuert“ heißt im Putinschen Russland doch etwas anderes als wir uns denken (und noch, historisch vergleichend, aus der Sowjetunion gewohnt sind).

Dann könnte es eher so sein, wie Ekaterina Schulmann auf Facebook schreibt: „Es ist wichtig zu verstehen, dass wir von außen auf das System schauen. Sie dort schauen aber von innen. Wir versuchen mit politischer Analyse die Logik der bürokratischen Maschine zu verstehen. Wir denken: ‚Was für einen Effekt wollen sie erzielen? Was wollen sie UNS sagen?’ Aber die Maschine denkt: Wie kann ich der Bedienungsanleitung folgen? Wie geht es, im Rahmen der Regeln es so zu machen, wie die Führung es braucht, obwohl schwer zu verstehen ist, was sie braucht? Wie kann man sich dabei selbst schützen und sich absichern? Wenn man uns sagt, dass das Gericht das Urteil spricht, dann ist das in einem gewissen Sinn die Wahrheit. Der Urteilstext wird von niemandem am Telefon aus dem Kreml diktiert. Die Details sind Sache des Gerichts, der Staatsanwaltschaft und des Untersuchungskomitees, von denen jeder einzelne seine speziellen Regeln befolgen muss, seiner Bedienungsanleitung folgen. Die Staatsanwaltschaft muss viele Anfragen machen (…). Die Richterin kann sich nicht gegen die Staatsanwaltschaft stellen, hat aber große Freiheiten mit dem Urteil. Die Richterin möchte das Verfahren möglichst schnell loswerden und am besten nie wieder sehen. Die Staatsanwaltschaft denkt über ihren Bericht nach. Die Richterin muss an eine Berufung denken, die sie möglichst vermeiden will, aber ob das Urteil von höheren Instanzen abgeändert wird, ist ihr völlig egal.“

Wenn Ekaterina Schulmann recht hat, dann erklärt das auch das Ergebnis. In der Gesellschaft kommt das Signal an, dass der Kreml sich nicht dazu entscheiden kann, denjenigen einzusperren, den er fürchtet, dafür aber einen völlig Unschuldigen hinter Stacheldraht schickt. Das ist gleichzeitig feige und infam.

Aber vielleicht ist es auch nur klug. Denn als feige und infam empfindet das Urteil nur eine kleine Minderheit der Menschen in Russland. Die große Mehrheit ist (vorerst zumindest) damit zufrieden, die Krim wieder zu haben. Nawalynj ist für sie Teil des großen Machtspiels da oben, dass sie ohnehin nichts angeht (oder auf das sie ohnehin keinen Einfluss haben). Er ist Teil des Packs da oben, dass sich schlägt, aber auch wieder verträgt. Wer da mitmacht, ist selbst schuld.

Das Problem „Nawalnyj“ ist damit aber nicht aus der Welt geschafft. Das geht auch gar nicht, da es nur teilweise um die reale Person Alexej Nawalnyj geht. Dahinter steht die wachsende Unsicherheit im Kreml vor den kommenden (oder schon eintretenden) schweren Zeiten. Die Wirtschaftskrise wird unweigerlich zu mehr Unmut in der Bevölkerung führen. Ob die Krim und die Ukraine auf Dauer ausreichen, diesen sozialen Unmut zu kompensieren, ist kaum vorher zu sagen. Ich würde mich nicht darauf verlassen und der Kreml tut es sicher nicht. Unruhe in der Bevölkerung braucht aber, soll er politisch wirksam werden, immer einzelne Menschen, die dann diesen Unmut zu bündeln und auf die Straße zu tragen in der Lage sind. Alexej Nawalnyj hat das Talent dazu. Nur darum geht es.