Kleine Verteidigung einer realistischen Ostpolitik

Schon seit einiger Zeit gibt es in Deutschland immer wieder Forderungen nach einer „neuen Ostpolitik“ gegenüber Putins Russland. Diese Forderungen, meist erhoben von Menschen, die eine eher konziliantere Politik gegenüber Putin befürworten, beziehen sich oft positiv auf die Brandtsche Ostpolitik der 1970er Jahre und den Beitrag, den sie zum Frieden in Europa und, letztlich, auch zur Auflösung der Blöcke bei der Epochenwende 1986-1991 gespielt habe. Manchmal, wie jüngst im sogenannten „Aufruf der 60“, wird das Kind auch „Entspannungspolitik“ genannt, gemeint ist aber weitgehend das Gleiche.  

Hinter diesen Forderungen steht die, wie man hoffen darf, aufrichtige Überzeugung, was damals gegenüber der Sowjetunion richtig und erfolgreich war, müsse auch heute gegenüber Russland geeignet sein, eine neue harte Konfrontation in Europa und einen neuen (kalten oder heißen) Krieg zu verhindern (in jüngster Zeit hat diese Argumentation allerdings den Makel, den schon stattfindenden Krieg in der Ostukraine – mit bisher mehr als 4.000 Toten – trotz der offenbaren russischen Beteiligung zu einem Bürgerkrieg umdeuten zu müssen).

Es gibt aber selbstverständlich auch eine Gegenbewegung. Sie besteht zunächst einmal darin, zu bezweifeln, dass Putin und die Seinen allein durch Dialog und gute Überzeugungsarbeit zu stoppen sein werden (ich bitte die leichte Zuspitzungen zu entschuldigen – sie sollen ausschließlich der Verständlichkeit dienen). Zwar spricht sich auch dort niemand gegen Dialog aus. Mehrfach hat sogar die NATO, ganz zu schweigen von der US-amerikanischen und der Bundesregierung, ein militärisches Eingreifen in der Ukraine ausgeschlossen. Aber es werden oft härtere Sanktionen gefordert, mitunter vermehrte Rüstungsanstrengungen und eine stärkere Präsenz der NATO in ihren mittelosteuropäischen Mitgliedsstaaten (was bei der anderen Seite mitunter den Vorwurf der „Kriegstreiberei“ provoziert).

Auf Seiten dieser meist als (die Nutzung dieses nicht ganz genauen, aber prägnanten und praktischen Labels sei mir verziehen) als „Putin-Kritiker“ bezeichneten Menschen zeigt sich, wenig verwunderlich, häufig eine Geringschätzung der Verdienste der alten Ostpolitik. So antwortete Alan Posener, Kolumnist der Tageszeitung „Die Welt“ jüngst auf einen meiner Posts zu diesem Thema auf Facebook mit folgender Auflistung der Gründe für das Ende der Sowjetunion: „Es waren: 1. Die Saudis, indem sie den Ölpreis drückten. 2. Die Polen, allen voran Lech Walesa und Johannes Paul II. 3. Die Chinesen. 4. Die Amerikaner. Die Ostpolitik war da eher Begleitmusik.“ Nun findet man durchaus auch andere Rangfolgen, aber die Tendenz ist klar: Die Ostpolitik sei eher Beiwerk gewesen, als dass sie die Sowjetunion wirklich beeindruckt hätte.

Ich neige weder dazu, die Ostpolitik Brandts zu überhöhen, aber auch nicht dazu, sie derart gering zu schätzen. Um das zu erklären, möchte ich noch einmal daran erinnern, dass sie vor allem drei konstitutive Bestandteile hatte. Selbstverständlich war es nicht die Ostpolitik (gar noch allein), die die Mauer zum Einsturz gebracht und das Ende der Sowjetunion besiegelt hat. Das Meiste haben die Menschen in Mittel- und Osteuropa selbst gemacht, in der Tschechoslowakei 1968, in Polen 1980, in Ungarn 1956 und wieder 1989, und, dann schon in der Sowjetunion, die Menschen in Moskau, vor allem aber auch in Riga, Kiew, Tallinn, Tiflis oder Vilnius.

Aber der Westen half. Er half auf zweierlei Weise. Einerseits durch sein sehr attraktives Werte- und sein vielleicht noch attraktiveres Warenangebot. Aber ebenso durch die ernst zu nehmende und in der sowjetischen Führung еrnst genommene Drohung, für diese Werte im Notfall auch militärisch einzustehen. Letztlich also ist die Sowjetunion an drei Dingen eingegangen: Am eigenen (wirtschaftlichen) Unvermögen, an der westlichen „Machtpolitik“ und am Dialog. Meinetwegen in dieser Reihenfolge, aber der Dialog, also das gegenüber früheren Zeiten neue Element der Ostpolitik, war wichtig.

Daran ändert auch nichts, dass führende Vertreter der alten Ostpolitik (stellvertretend lässt sich Egon Bahr hervorheben, ein Geopolitiker par excellence) unter Dialog vor allem den Dialog mit den in den sozialistischen Ländern herrschenden politischen Eliten verstanden. Sie haben, das wurde spätestens in den 1980er im Verhältnis zur polnischen Solidarnosc-Bewegung Jahren deutlich,war aber auch gegenüber der Sowjetunion, der DDR und anderen Ländern deutlich, die Freiheitsbewegungen dort sträflich unterschätzt, vielleicht sogar bewusst missachtet. Aber das ändert nichts daran, dass die Ostpolitik dazu beigetragen hat, diesen Menschen mehr Luft zum Atmen zu verschaffen. Erneut: nicht allein, aber auch.

Zusammengefasst: Die alte Ostpolitik war so schlecht und unwirksam also nicht. Sie hat tatsächlich dazu beigetragen, den Kalten Krieg zu beenden, denn sie hatte ihren Anteil daran, dass die Luft hinter dem Eisernen Vorhang freier wurde (nicht zu verwechseln mit: frei). Denn gestern galt wie heute gilt: Ein nachhaltiger, also echter Wandel in Russland (damals der Sowjetunion und den von ihr beherrschten Ländern Mittel- und Osteuropas) ist letztlich nur von innen heraus möglich. Es ist aber gerade dazu nötig, einen oft „romantisierenden, häufig naiven Blick auf die Ostpolitik und ihre Verdienste aufzubrechen“, wie der Potsdamer Historiker Jan Claas Behrends schreibt.

Der „Aufruf der 60“ (und ähnliche Äußerungen) ist nicht deshalb schlecht, weil er „Entspannungspolitik“ fordert, sondern weil er sie auf Kosten der eigenen Werte, vor allem aber auf Kosten der Länder zwischen Deutschland und Russland und auf Kosten der Menschen in Russland fordert, die sich für einen demokratischen Wandel dort einsetzen. Der Aufruf versteht Entspannungspolitik letztlich als Kapitulation vor Putin, wobei ziemlich egal ist, ob nun aus Ignoranz, Angst oder Scham. Das kann nicht funktionieren, auch und vor allem, weil es denjenigen in Russland nicht hilft, die das Land verändern wollen, und ohne die es eben nicht geht – selbst wenn sie gegenwärtig in der marginalisierten Minderheit sind. Bis zum Beginn der Perestroika waren es auch „nur eine Handvoll“ Dissidententen und selbst 1989-1991 war es keine Mehrheit in der Sowjetunion, die auf grundlegende demokratische Veränderungen drängte. Wer heute bedingungslose Entspannung fordert, zwingt auch diese Menschen zur Kapitulation. Es geht ihnen auch so schon schlecht genug.

Es ist aber noch etwas Anderes anders. In der deutschen Diskussion über den Krieg in der Ukraine und das Verhältnis zu Russland ist die Figur, „wir können und dürfen doch nicht so kritisch den ‚Russen‘ gegenüber sein, weil sie so unter uns gelitten haben“, sehr weit verbreitet. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch den „Aufruf der 60“.

Die alte Ostpolitik und ihre weniger dialogischen Begleiterinnen hatte es mit der Sowjetunion zu tun, wir heute mit Russland. Oder genauer, eben nicht nur mit Russland, sondern mit allen anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion auch. Die werden aber immer wieder, wie soll ich sagen…, „vergessen“. An vielen Stellen begegnet einem der Fehler die (eher west)deutsche umgangssprachliche Gleichsetzung von Sowjetunion und Russland auf heute zu übertragen. „Sowjetunion“, das waren aber, trotz Zentrum Moskau, alle, also auch die Ukrainer (was sicher auch im ukrainischen nationalen „Opfer“-Diskurs stärker zu betonen wäre; ich erinnere nur an den sprichwörtlichen „ukrainischen Feldwebel“ als Wachmann im Gulag).

Exkurs: Ja, es gibt ein Problem damit, dass sich praktisch alle aus der Sowjetunion hervor gegangenen Staaten bei der nationalen Identitätsfindung eines Opferdiskurses bedienen, sich als „Opfer Russlands“ darstellen (auch hier ist die Gleichsetzung Sowjetunion – Russland so bequem wie ungenau). In Russland passiert so etwas wie das Gegenteil. „Opfer“ von sich selbst kann man schlecht sein (man kann höchstens Reue zeigen).  Nur – „Täter“ oder „nur Täter“ möchte so gut wie niemand in Russland sein, nicht einmal (und in gewisser Hinsicht vor allem nicht) die schärfsten Putin-Kritiker (denn das würde ja auch nicht stimmen). Also macht Putin das Land (mit dessen sehr weitgehender Zustimmung) zum Opfer einer äußeren Macht, des Westens oder genauer: der USA.

Und weiter: Es muss gleiche Behandlung und gleiches Recht für alle ehemaligen Bewohner der Sowjetunion sowohl bei der Erinnerung an das zugefügte Leid, als auch bei der Erinnerung an das Leid, das zugefügt wurde geben. Also: Wenn es wegen der Grausamkeiten des Kriegs und im Krieg eine besondere deutsche Verantwortung Russland und den Russen gegenüber gibt (was ich glaube), dann gibt es sie ebenso der Ukraine und den Ukrainern gegenüber (und allen anderen Bewohnernn der Sowjetunion, wie auch immer sie sich heute kollektiv organisieren oder zu organisieren beabsichtigen). Das fällt leider in Deutschland, und zwar besonders in der Diskussion um eine neue Ostpolitik, oft unter den Tisch, wird also mitunter bewusst, oft wohl auch unbewusst verschwiegen. Was rauskommt ist dann ziemlich schief.

Und noch etwas zum Schluss: Russland verfügt zwar wie die Sowjetunion über Atomraketen. Damit endet aber auch schon der Vergleich. Das Land agiert nicht mehr auf einer Augenhöhe mit den USA. Es ist kleiner geworden, und trotz des Rohstoffbooms des vergangenen Jahrzehnts auch nicht reicher, vor allem aber verwundbarer. Der Grund für Letzteres liegt in einer erfreulichen Tatsache: Nie war Russland (und viele Russinnen und Russen persönlich) mehr in die internationale Gemeinschaft und Wirtschaft eingebunden als heute. Das hat sich unter Putin nicht geändert, im Gegenteil, diese mit der Perestroika einsetzende Entwicklung ist bis heute immer stärker geworden.

Wir stehen also vor der nicht einfachen Aufgabe, beides zugleich bewerkstelligen zu müssen: Putin deutlich und unmissverständlich zu zeigen, dass es so nicht geht. Und Russland einzuladen, es anders zu versuchen. Dazu bräuchte es tatsächlich eine neue Ostpolitik, aber eine, die nicht nur auf Dialog setzt, sondern auch bereit ist, die eigenen Werte zu verteidigen.