Sotschi im Schnelldurchgang: Prestige, Selbstvergewisserung, Korruption, Wiktor Jerofejew und der Weißmeerkanal

Die Olympischen Winterspiele in Sotschi beginnen in weniger als einem Vierteljahr, also sehr bald. Und dieser Blog hat sie noch nicht zum Thema gehabt. Wohl ein Versäumnis. Wenn ich so nachdenke, liegt das aber eher daran, dass mir dazu zu viel einfällt als zu wenig. Man könnte über Sotschi und die Korruption schreiben. Über Sotschi und der Nordkaukasus. Über Sotschi, Abchasien und Georgien. Über Sotschi und die Umwelt. Über Sotschi und den Umgang mit der eigenen Bevölkerung. Über Sotschi als Sicherheitsproblem. Über Sotschi als nationales und persönliches Prestigeprojekt. Über Sotschi und den Polizeistaat. Über Sotschi als nationale Selbstversicherung (die schiefgehen kann). Über Sotschi, Russland und Doping. Und selbstverständlich auch über Sport.

Also im Schnelldurchgang: Offiziell rund 38 Milliarden Euro kosten die Sotschi-Spiele inzwischen. Das ist rund sechsmal mehr als ihre Vorgänger in Vancouver (was in Kanada ziemlich kritisch diskutiert wurde). Es gibt wohl niemand in Russland der oder die nicht davon überzeugt ist, dass ein nicht unerheblicher Teil dieses Geldes geklaut worden ist. Aber es geht ums nationale Prestige. Und geklaut wird überall im russischen Staat. Schauen wir also zumindest bis der Medaillenspiegel feststeht (und Russland, so die große Hoffnung bei Führung und Volk, ganz oben) erstmal weg.

Der Nordkaukasus bleibt unruhig (bis auf die teuer erkaufte Friedhofsruhe in Tschetschenien). Die dortigen Regionalpotentaten haben bis Sotschi eine Card Blanche. Hauptsache es bleibt ruhig. Ansonsten gibt es im Süden Russlands Polizei, Geheimdienst, Armee, noch mehr Polizei, noch mehr Geheimdienst und noch mehr Armee. Alle, was auch nur ansatzweise verdächtig ist. Wir kontrolliert und reglementiert. Sotschi wird eine Festung sein, wie bisher nur G8- oder G20-Tagungsorte. Hoffentlich (und ich hoffe das wirklich aus ganzem Herzen!) geht alles gut.

Ob deswegen alle paar Tage (ausländische) Journalisten drangsaliert werden müssen, regionale UmweltaktivistInnen festgesetzt oder ins Ausland getrieben und die 30 armen Greenpeace-AktivistInnen (als Warnung für alle, die auf die Idee kommen könnten, die weltweite Olympiaaufmerksamkeit für ihre auch noch so berechtigten Anliegen nützen zu wollen) weiter im Untersuchungsgefängnis schmoren müssen, wage ich zu bezweifeln, fürchte aber, damit hier im Land in der Minderheit zu sein.

Georgien und Abchasien vergessen wir während der Olympischen Spiele. Das ist zu verwickelt und stört, seit Putins Lieblingsfeind Michail Saakaschwili nicht mehr Präsident ist, nicht wirklich.

(Zu) Viele Doping-Disqualifizierungen russischer AthletInnen könnten die Spiele natürlich verderben. Bei fast allen großen Sportereignissen der jüngeren Vergangenheit waren russische SportlerInnen überdurchschnittlich unter den DopingsünderInnen vertreten. Mitte November entzog die internationale Antidopingagentur WADA dem russischen Doping-Labor in Moskau die Zulassung. Da fehlte wohl das Vertrauen. Das IOC erklärte, die Dopingkontrollen während der Spiele seien auch so gesichert. Aber das Gastgeberland bloßstellen?  Das passt weder zum IOC, noch zu anderen internationalen Sportverbänden. Und in Russland selbst glaubt ohnehin eine Mehrheit der Menschen, dass Dopingkontrollen eine Abart des unfairen Wettkampf sind, nicht das Doping selbst (nach dem Motto: „Machen doch sowieso alle“).

Das war der Schnelldurchlauf. Nun komme ich zum Wesentlichen. Sotschi war und ist als Krone der Putinschen Konsolidierung des russischen Staates gedacht. Das wiedererstarkte (Kremldiktion: „von den Knien wieder auferstandene“) Putinsche Russland zeigt sich und seine wiedergewonnene Kraft und Herrlichkeit der Welt. Und es zeigt sie sich selbst. Das muss der immer noch tief verunsicherten (und gespaltenen) Nation gelingen.

Einen Vorgeschmack gibt schon der Fackellauf. Die Fackel, mit der die olympische Flamme seit Wochen kreuz und quer durchs Land getragen wird, ist eine Spezialanfertigung der russischen Rüstungsindustrie. Viele Millionen Rubel hat die Entwicklung gekostet (und in den sozialen Netzwerken wird, mal höhnisch, mal bangend, gezählt, wie oft sie schon ausgegangen ist). Nun war die Flamme schon am Nordpol und im westlichen Kaliningrad, im Fernen Osten und im All, auf dem Elbrus, dem höchsten Berg Europas und wird zum Schluss das olympische Feuer in Sotschi entzünden, dem südlichsten Punkt Russlands. Ein wenig erinnert das an einen Hund, der sein Gelände markiert, um allen Konkurrenten zu zeigen, von wo sie sich gefälligst wegzuhalten haben.

Das Hohelied auf die Staatsmacht mit ihrem Führungsmann Wladimir Putin, die Russland wieder zur „Siegernation“ gemacht hat (siehe auch meinen Blogeintrag zur „einfachen Erinnerung“), kommt bisher noch ein wenig heiser herüber. Aber bisher gibt es die Siege von Sotschi ja auch noch nicht.

Einen in jeder Hinsicht bemerkenswerten Versuch hat dieser Tage der auch in Deutschland bekannte, vielseits geschätzte und als FAZ-Kolumnist tätige Schriftsteller Wiktor Jerofejew geliefert. In der gemäßigt kremlkritischen Tageszeitung „Kommersant“ singt er ein Lied auf den „kräftigen Hausherrn“, der die Spiele ermöglicht, ja durch seinen Willen erst möglich gemacht hat. Wer damit gemeint ist, wird nicht gesagt, versteht sich aber von selbst. Hier ein paar ausgewählte Zitate:

„Als mir der Bürgermeister von Sotschi, Anatolij Pachmow, ein Mann mit willenstarkem Blick, mir mit Stolz und Zuneigung die olampischen Objekte kosmischen Maßstabs zeigte, glaubte ich meinen Augen nicht… Wir bekommen am Schwarzen Meer die Olympiastadt Sotschi, umgewandelt, nicht wiederzuerkennen…“

„Die Sonne Russlands, sage ich dem Bürgermeister mit einem leichten Lächeln, geht nun in Sotschi auf…“

„Ja, Sotschi dient unserer Europäisierung. Und stellen Sie sich vor… was die Sportler und Touristen denken werden, wenn sie nach Sotschi kommen? Sie sagen: Man hat uns gesagt, dass Russland ein Kühlschrank sei. Aber Russland, das sind Palmen und Bambusgewächse! Riviera!“

„Wissen Sie, ich habe vor zehn Jahren einen Autobiographie mit dem Titel „Der gute Stalin“ geschrieben… Der schlechte Stalin, das ist 1937. Aber der gute, er erfreut das Volk, er baut Staudämme, er straft, aber nicht millionenfach. Und nun hat irgendwer in der Art der guten Stalins sich der Olympiade in Sotschi angenommen und die Sache bis zu Ende gebracht.“

„Wir haben nicht das schlechteste Regime… Wenn wir eine Revolution machen, dann erwartet uns eine neue Katastrophe… Ich sage: Danke den kräftigen Bauleuten und Bauherren in Sotschi! Erfolg den Sportlern! Glück den Fans!“

Hier nicht mit flauem Magen an Maxim Gorki und den Weißmeerkanal zu denken, ist unmöglich. Gorki reiste 1933 zusammen mit Alexej Tolstoj, Boris Pilnjak, Ilf und Petrow, Soschtschenko und anderen sowjetischen Schriftstellern an den von Gulaghäftlingen oft buchstäblich mit ihren Händen gegrabenen Wasserweg von Leningrad ans Weiße Meer. Unter seiner, des unangefochtenen Doyens der sowjetischen Literatur zu jener Zeit, Herausgeberschaft verfassten sie eine verlogene Eloge auf den Bau des Kanals.

Was treibt nun den „eigentlich“ dem liberalen, putinkritischen, „europäischen“ Lager des russischen Politikkosmos zugerechneten Jerofejew dazu Putin unverhohlen mit dem „guten Stalin“ zu vergleichen (im deutschen Kontext: dem, der die Autobahnen gebaut hat)? Möchte er sich eventuell mit dem großen Gorki gleichsetzen? Spürt er vielleicht mit feiner Nase, dass ein wenig vorauseilende Unterordnung dieser Tage angebracht ist? Oder wird er, wenn die Situation es dereinst erlaubt und erfordert, all seinen KritikerInnen spöttisch entgegen halten, das sei doch alles hochironisch gemeint und wie hätte irgendjemand mit Verstand das ernst nehmen können? Was auch immer sich Jerofejew mit diesem Text gedacht hat: Es lässt nichts Gutes ahnen.