Nawalnyjs Ritterschlag

„Was für eine Biographie machen sie unserem Rotschopf!“ rief Anna Achmatowa, die große russische Dichterin des 20. Jahrhunderts, aus, als der Noch-lange-nicht-Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky 1964 in Leningrad von einem sowjetischen Gericht zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde. Ein Teilnehmer der spontanen Pro-Nawalnyj-Demonstration im Moskauer Stadtzentrum am 18. Juli, dem Tag seiner Verurteilung, seufzte auf Facebook: „Ich weiß nicht warum die Staatsmacht aus mir einen Anhänger von Nawalnyj macht. Wo ist da der Sinn?“ Wie viele andere, die nun aus Solidarität mit Alexej Nawalnyj (und Pjotr Ofizerow, der zweite Verurteilte, der, auch als Nicht-Politiker, keinesfalls vergessen werden soll) in Russland auf die Straße gehen, war dieser Facebook-„Freund“ beileibe kein Anhänger von Nawalnyj, sondern stand (und steht) ihm und seinen mitunter nationalistisch gefärbten Aussagen durchaus skeptisch gegenüber.

Es sieht aber ganz so aus, als sei der Kreml finster entschlossen aus dem Politiker-Anfänger Alexej Nawalnyj einen echten Profi und Volkshelden zu machen (wichtig: zu beidem). Anders lässt sich das so offensichtlich unrechtmäßige 5-Jahre-Lagerhaft-Urteil nur schwer, also nur mit Inkompetenz und Dummheit erklären. Und das wäre ja nun, auch wenn schon Thomas Mann vor 100 Jahren die „Unglückheiten der ‚Macht’, welche höchst dankbare Martyrien schafft“ beklagt hat, keine wirklich befriedigende Erklärung. Oder vielleicht doch? Ich versuche es einmal anders herum.

Wer ist Alexej Nawalnyj? Bis zum Dezember 2011 war er ein mäßig erfolgreicher Oppositionspolitiker und ein sehr erfolgreicher Anti-Korruptionsblogger. Er zeigte seltenes politisches Talent, aber eben in der vom Kreml sehr begrenzt zugelassenen Oppositionsöffentlichkeit. Die Proteste gegen die gefälschten Dumawahlen brachten diesem Talent erstmals eine landesweite Bühne außerhalb des Internets (wenn auch weiter ohne die kreml-kontrollierten staatlichen Fernsehkanäle). Die gekonnte Popularisierung des eingängigen Spruchs von den „Gaunern und Dieben“ in Parlament und Kremlpartei (entgegen weitläufiger Meinung nicht von Nawalnyj erfunden) zeugte von der Fähigkeit, politisch mehrheitsfähige Inhalte auch griffig, medien- und massenwirksam bündeln zu können (für eine nähere Charakterisierung Nawalnyjs verweise ich hier auf einen Artikel von Julia Ioffe in The New Republic, der mir vielleicht ein wenig zu enthusiastisch, im Großen und Ganze aber zutreffend scheint).

Erst die Proteste machten also aus Nawalnyj einen Politiker. Natürlich waren die Proteste weit mehr als Nawalnyj, aber er war ihr wichtigstes Aushängeschild und, als Person, mit gutem Recht ihr größter Nutznießer. Das bestätigten auch die im Internet organisierten Wahlen zu einem „Koordinationsausschuss der Opposition“ im September 2012, bei denen Nawalnyj mit großem Abstand von allen BewerberInnen, darunter lange und fernsehweit bekannte Persönlichkeiten, die meisten Stimmen bekam. Offensichtlich sah man das auch im Kreml so. Denn schon Anfang 2012 wurde ein zuvor bereits eingestelltes Strafverfahren gegen Nawalnyj vom mächtigen „Untersuchungskomitee der Staatsanwaltschaft“ wieder aufgenommen. Das Führte nun zur Verurteilung.

Dieses in gewisser Weise (in politischer, nicht in rechtlicher!) zwangsläufige Strafverfahren zeigt Kontinuität und Diskontinuität in der Entwicklung des von Putin geführten politischen Regimes. Ein Teil der Kontinuität besteht in der von Anfang an im Putinschen System angelegten politischen Repression gegen politische Gegner, so sie sich nicht kooptieren oder marginalisieren lassen. Eines der ersten prominenten Opfer war Michail Chodorkowskij, der deshalb seit nun schon fast zehn Jahren in Haft sitzt. Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied zur Situation von vor zehn Jahren. Während 2003 der „Mann aus dem Volk“ Putin gegen den phantastisch reichen „Oligarchen“ Chodorkowskij vorging, haben sich diese Rollen heute (fast) umgekehrt: der phantastisch reiche Putin (oder zumindest seine phantastisch reichen Genossen) gegen den „einfachen Kerl aus dem Volk“ Nawalnyj. Ich gebe zu, das ist ein wenig arg zugespitzt, aber die Umkehrungsrichtung stimmt.

Der zweite Teil der Diskontinuität besteht in einem bewussten (wenn auch in gewisser Weise durch die Proteste erzwungenen) Politikwechsel Putins nach der erneuten Amtsübernahme vor einem guten Jahr. Ich habe schon mehrfach darüber geschrieben, dass sich Putin entschieden hat, vom Präsidenten des ganzen Landes zum Präsidenten einer (angenommenen oder tatsächlichen) Mehrheit zu werden. Das möchte ich hier präzisieren. In Putins eigenen Worten heißt diese neue Mehrheit „überwältigende Mehrheit“. Nach seiner Wiederwahl sprach er noch am Wahlabend sogar von der „überwältigenden Unterstützung der überwältigenden Mehrheit“ der Menschen im Land (und die berühmte eine Träne rollte seine Wange herunter).

Wie die (Präsidenten-)Wahlen (aber auch Umfragen) gezeigt haben, ist diese „überwältigende“ Mehrheit aber nicht gleichmäßig im Land verteilt. Es gibt sie, wie auch immer erzeugt, mit fast 100 Prozent im totalitären Tschetschenien und mit über 60 bis 80 Prozent in vielen wirtschaftlich eher rückständigen und abgelegenen Regionen. Aber ausgerechnet Moskau, das wirtschaftliche und politische Herz des Landes, verweigert sich mit weniger 50 Prozent der Stimmen Putin. Nachdem die Protestbewegung in diesem Frühjahr mittels viel Propaganda, Staatsanwaltschaft, Gerichten und repressiven Gesetzen in die Schranken gewiesen schien, soll dieser Makel nun getilgt werden. Sergej Sobjanin, Bürgermeister von Putins und nur von Putins Gnaden, trat Anfang Juni zurück und rief Wahlen für Anfang September aus. Wie es scheint, ist diese Moskauer Wahl auch als Testlauf und Beispiel für andere Regionen gedacht.

Die Rechnung ist einfach. Sobjanin liegt inzwischen bei Umfragen stabil bei knapp 60 Prozent Zustimmung. Das würde mit den üblichen Instrumenten (Fernsehmonopol, „administrative Ressourcen“, Wahlfälschung) sicher reichen, um zumindest formal nachzuweisen, dass auch die Hauptstadt wieder Putin-Land ist. Das einzige Problem ist, wie man die Wahlen, damit das Ergebnis auch glaubwürdig Legitimität verleiht, ausreichend fair aussehen lässt, ohne aber den notwendig hohen Sieg zu gefährden. Michail Prochorow, der bei den Präsidentenwahlen in Moskau mit mehr als 20 Prozent den zweiten Platz nach Putin belegt hatte, schien den Planern im Kreml als Kandidat offenbar zu gefährlich. Er durfte nicht antreten. Alexej Nawalnyj meldete seine Kandidatur an.

Somit stand der Kreml Nawalnyj gegenüber schon vor zwei Fragen: „verurteilen oder nicht verurteilen?“ und „zulassen oder nicht zulassen?“. Zulassen hieße das Risiko einzugehen, dass Nawalnyj (aus Kremlsicht) „zu viele“ Stimmen bekommt (und damit Sobjanin „zu wenig“). Um das zu verhindern könnten größere Manipulationen nötig werden. Wozu das wiederum in Moskau führen kann, haben die Proteste nach der Dumawahl im Dezember 2011 gezeigt. Also gefährlich. Nicht zulassen würde aber das Ziel gefährden, dessent wegen die Wahlen überhaupt erst angesetzt wurden, eben die Legitimität von Sobjanin, aber vermittelt auch des in Moskau wenig geliebten Putin, zu stärken. Offenbar setzten sich die Argumente für Ersteres durch. Nawalnyj wurde vorigen Mittwoch, einen Tag vor der Urteilsverkündung im Prozess gegen ihn, als Bürgermeisterkandidat offiziell registriert.

Am Tag darauf erfolgte dann der Unfall. Der gerade erst mit öffentlichem Pomp und ausdrücklicher Unterstützung von Sobjanin zugelassene Kandidat wurde von einem Kreisgericht in Kirow zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt und noch im Gerichtssaal festgenommen. Nawalnyj erklärte sofort seinen Rückzug als Kandidat. Es kursieren unterschiedliche Versionen, wie es dazu kommen konnte.  Die einen sprechen von einem Machtkampf unterschiedlicher (nicht unbedingt im ideologischen Sinn) Gruppen innerhalb des Machtzirkels, z.B. des schon erwähnten Untersuchungskomitees mit der Staatsanwaltschaft. Andere versichern, es habe sich schlicht um Abstimmungsprobleme zwischen Kremladministration, Moskauer Bürgermeisteramt, Staatsanwaltschaft und Richter gehandelt. Dritte machen einen seit einiger Zeit beobachtbaren Überbietungswettbewerb unterschiedlicher „Machtstrukturen“ bei der Bekämpfung der Opposition verantwortlich.

Wie dem auch sei: Direkt nach dem Urteil müssen die Drähte (wohl bis zu Putin hoch) heißt gelaufen sein (oder die Wellen im Äther heftigst geschwungen). Noch während sich im Moskauer Stadtzentrum erste gegen das Urteil Protestierende sammelten, erhoben die eben noch hart anklagenden Staatsanwälte vor dem nächsthöheren Gericht Beschwerde gegen die Inhaftnahme. Am nächsten Morgen hob das Kirower Bezirksgericht die Haft auf. Nawalnyj und Ofizerow wurden bis zum Berufungsverfahren auf freien Fuß gesetzt. Nawalnyj erklärte, den Wahlkampf wieder aufzunehmen, und machte sich auf den Weg nach Moskau.

(Ein weiterer Beleg für den politischen Charakter des Prozesses: Bisher wurde kein(e) JuristIn gefunden, die oder der sich an eine ähnliche Haftaussetzung bei einer ähnlich hohen Verurteilung in der russischen Justizgeschichte erinnern konnte)

Das Unglück (aus Sicht des Kremls) war trotz der erneuten Freilassung Nawalnyjs bereits geschehen.  Praktisch über Nacht war aus dem aufstrebenden und ja selbst in der Opposition nicht unumstrittenen Politiktalent ein, wie man in Russland sagt, „Politiker im Landesmaßstab“ geworden. Das bestätigten auch die beeindruckenden Unterstützungsdemonstrationen am Abend der Urteilsverkündung (hier eine beeindruckende Fotoreportage), vor allem die in Moskau, zu der mehr Menschen kamen als am 5. Dezember 2011 zu den ersten Protesten gegen die Wahlfälschungen. Am Samstag Morgen um halb zehn, zwei Tage nach dem Urteil zog Nawalnyj am Jaroslawer Bahnhof mit dem Zug aus Kirow kommend triumphal in seiner Heimatstadt ein. Eine Menschenmenge und viele, viele JournalistInnen und Kameras erwarteten ihn, während sich die Polizei erneut zurück hielt. Im Überschwang machten Vergleiche mit Lenins Eisenbahnwaggon-Rückkehr aus dem Schweizer  Exil im Internet die Runde.

Wie ich erst vor zehn Tagen in der Rezension des Buchs „Putin Kaputt?!“ von Mischa Gabowitsch in diesem Blog wieder geschrieben habe, sollte man sich von zurück gehender Protestaktivität bei politischen Entwicklungen nicht allzu sehr täuschen lassen. (Zivil-)Gesellschaften lernen und erinnern sich (an Gutes wie an Schlechtes). Die Demonstration am Tag der Verurteilung Nawalnyjs in Moskau war die größte unangemeldete seit Putins Amtsantritt vor über 13 Jahren. Nie war die Polizei so unvorbereitet. Nie wurden DemonstrantInnen so nah an ein wichtiges Staatsgebäude gelassen, wie diesmal an die Staatsduma. Und im Gegensatz zu den Demonstrationen im vorvorigen Winter wird die Stimmung von vielen TeilnehmerInnen übereinstimmend als „weniger optimistisch“, als „weniger naiv“ beschrieben, dafür aber auch als „angstfrei“ und „entschlossen“. Der Protest war also nicht „vorbei“, er hat nur „geschlafen“. Es brauchte nur einen Anlass, der den Menschen wichtig genug, empörend genug, vor allem aber mit einer ausreichend wichtigen politischen Message ausgestattet erschien. Und wieder sind es Wahlen, besser gesagt der unverschämte (im Wortsinn) Versuch, mittels manipulierter Wahlen die eigenen Macht zu sichern, der die Menschen auf die Straße bringt. Wie lange und wie intensiv, hängt vom weiteren Handeln der Akteur ab.

Nawalnyj kann, politisch gesehen, vorerst nur weiter gewinnen. Im Prozess gegen ihn wurde er erstmals einem landesweiten Publikum im Fernsehen gezeigt. Es wird schwer werden, ihn im Bürgermeisterwahlkampf auch medial zu ignorieren, wie es noch bei der Kandidatenbekanntgabe geschehen ist, als in den Nachrichten der Kremlkanäle die Namen aller registrierten Kandidaten mit Ausnahme Nawalnyjs verlesen wurden. Wenn er bis zur Wahl nicht rechtskräftig verurteilt wird (und als Folge von der Wahl ausgeschlossen) und viele Stimmen holt (wozu nun gute Chancen bestehen), wird er zum ersten Herausforderer Putins aufsteigen. Wenn er, wegen massiver Manipulationen nur wenige Stimmen bekommt, dürfte es auf Moskauer und anderen russischen Straßen in nächster Zeit wieder lebhaft werden. Sollte Nawalynj aber vor der Wahl noch verurteilt und von der Kandidatenliste gestrichen werden, wäre er auf einem guten Weg zum nationalen Helden. Es bleibt spannend.