Pussy Riots Folgen

Das Urteil, vor allem aber seine Begründung (gar nicht so sehr das Strafmaß, das gab es auch früher schon) heben den Prozess gegen die drei Frauen von Pussy Riot heraus. In ihrer Absurdität spiegelt sich ein neues Niveau politisch motivierter Justiz in Russland. Zwei Dinge stechen hervor: Die in dieser Offenheit und Enge neue Verbindung des Staates mit den obskuren Rändern des in Russland ohnehin weiten politischen und gesellschaftlichen Spektrum und der Verlust fast jeglicher Scham. Außergewöhnlich ist aber auch die öffentliche Resonanz des Prozesses – und zwar sowohl international als auch, wichtiger noch, im Land selbst.

In den Analysen dessen, was da vor unseren Augen passiert, finden sich vorwiegend drei Sichtweisen:

  1. Putin ist politisch inzwischen so schwach, so schlecht beraten zudem, dass der Versuch, ein Exempel zu statuieren, völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Putins Londoner Aufruf zur Mäßigung (dem dann auch die orthodoxe Kirche folgte) war lediglich ein (später) Versuch, den Schaden noch zu begrenzen. Doch die Zwickmühle zwischen Gesichtsverlust bei Freilassung (oder gar Freispruch) und öffentlicher Empörung bei einer Lagerhaftsstrafe war schon zugeschnappt.
  2. Gerade die Absurdität des Prozesses gegen Pussy Riot ist Teil der allgemeinen Repressionsstrategie. Er soll, wie zuvor der Chodorkowskij-Prozess, vor allem all jene einschüchtern, die Putins Macht in Frage stellen. Die Absurdität der Anklage dient zu zeigen, dass es jede und jeden treffen kann, die Justiz inzwischen also endgültig zu einem universellen Repressionsinstrument in der Hand der Machthabenden geworden ist. Putin nimmt dabei, die heftige Reaktion voraussehend, die Spaltung des Landes in einen eher liberalen, weltlichen und einen eher konservativ-religiösen billigend und kaltblütig in Kauf, in der, laut Umfragen, nicht ganz unbegründeten Annahme, dass Letzteres der größere sei und ihm so auch weiterhin eine Mehrheit sichere. Das mit solch einer Zuspitzung der politischen Auseinadersetzungen auch immer einhergehende “Schließen der eigenen Reihen” ist ein willkommenes Nebenprodukt.
  3. Ohne Verschwörungstheorien geht es nicht in Russland. Sobald die Sache zum Politikum wurde, also spätestens ab Mai, schossen zahlreiche von ihnen ins Kraut. Ziel der Aktion, wahlweise aus dem Westen, der Kirche oder dem Kreml gesteuert, war es ihnen zufolge, entweder andere politische Entscheidungen aus der öffentlichen Aufmerksamkeit zu halten (also eine Art Ablenkungsmanöver), oder die neuerstarkte Rolle des orthodoxen Patriarchen als selbstständiger politischer Akteur wieder einzuschränken oder Putin vor der Wahl (das Punkgebet fand eine Woche zuvor statt) einen zusätzlichen Schub zu geben – was dann erst klappte und später, als Nachbrenner sozusagen, nach hinten losging.

Die Verschwörungstheorien sind, neben grundsätzlichen Bedenken, aus zwei Gründen uninteressant: Sie sind fast alle interessengeleitet, vor allem aber kaum nachprüfbar. Außerdem mag es irgendwann historisch von Interesse sein, “wie es geschah”, der Analyse des politischen Resultats dient es wenig. Die wichtige, richtige Frage stellt dagegen zum Beispiel Oleg Kaschin, ein eher oppositioneller Journalist der angesehenen Moskauer Tageszeitung Kommersant: Wer ist denn Gewinner und wer Verlierer des Ganzen? Auch hier gehen die Antworten selbstverständlich auseinander. Kaschin sieht Putin deutlich vorn. Andere halten die Russisch-Orthodoxe Kirche für die größte Verlierein. Mir scheint die Antwort in einer Mischung der oben skizzierten Sichtweisen 1 und 2 zu liegen.

Ja, Putin setzt, spätestens seit seinem erneuten Amtsantritt Anfang Mai, auf Konfrontation zwischen einem modern-postmodernen, großstädtischen und weltlichen Russland und einem modern-vormodernen, partriarchalen und ländlich-kleinstädtischen. Das geschieht ganz offenbar in der Hoffnung, Letzteres sei (immer noch) deutlich größer als Ersteres. Umfragen, auch des in dieser Hinsicht unverdächtigen Levada-Zentrums, scheinen ihm da Recht zu geben. Rund 70 Prozent der Menschen Russland bezeichnen sich als „russisch-orthodoxe Christen” (und für den gerade beschriebenen Gegensatz muss man noch eine große Zahl gläubiger Moslems hinzu rechnen). Gleichzeitig aber sagen von diesen 70 Prozent “Russisch-Orthodoxen” rund 40 Prozent, dass sie nicht an Gott glauben. Sich als „orthodox“ zu begreifen heißt in Russland vor allem, sich als ethnisch „russisch“ zu verstehen (im Gegensatz zu, sagen wir, tatarisch, tschetschenisch oder burjatisch). Zudem gibt einen deutlichen Zusammenhang zwischen Wohnort und politischer Einstellung: Je mehr Menschen an einem Ort zusammen leben, umso größer ist der Anteil derer, die sich als “liberal” und “weltlich” bezeichnen, umso weniger Menschen stimmten bei den vergangenen Wahlen für Putin oder die Kremlpartie Einiges Russland.

Wichtiger aber scheint mir eine andere implizite Annahme, die sich bei Kaschin, aber auch vielen anderen KommentatorInnen findet: Putin habe (weiter oder wieder) eine Mehrheit, ja, sie sich unter anderem mittels der beschriebenen Zuspitzung verschafft. Die Demokraten und Putin-Gegner hätten (deshalb) das seit dem Winter dauernde Machtringen verloren. Den ersten Teil dieser Annahme kann man diskutieren. Der zweite ist zumindest gewagt.

Die wichtigste, im vergangenen Jahr zu Tage getretene Veränderung in Russland ist, dass  die Opposition aus der politischen Marginalität zum machtbedrohenden Faktor geworden ist. Das beide, Kreml wie Opposition die möglichen direkten Auswirkungen dieser Bedrohung anfangs überschätzten, macht die Veränderung nicht kleiner. Anders ausgedrückt: Bis vor einem Jahr war die Putinmehrheit erdrückend (es war in Umfragen immer von 10-20 % „Liberalen“ die Rede). Nun ist sie zwar immer noch eine Mehrheit, aber „nur“ noch eine relative. In Zahlen ausgedrückt etwa so: Ein gutes Drittel Putin-Anhänger, ein knappes Drittel Putin-Gegner, ein Drittel unentschiedene, die aber im Zweifel (immer noch) eher Putin zuneigen. Die große Frage ist, wie Pussy Riot (und Ähnliches) auf dieses letzte Drittel wirkt. Und die Antwort darauf ist bei weitem nicht so eindeutig, wie Kaschin suggeriert.

Zudem hat die Zustimmung zu Putin in allen Bevölkerungsgruppen und den meisten Regionen deutlich abgenommen. In einer Umfrage des Levada-Zentrums vom April über Putins “strake Seiten”, haben ihn nur noch 39 Prozent als “geschäftstüchtig, aktiv und energisch” charakterisiert, gegenüber 62 Prozent im Februar 2008; 18 Prozent sagten, Putin sei “intelligent und kultiviert”, gegenüber 43 Prozent 2008; und nur noch 7 Prozent hielten ihn für “ehrlich, zurückhaltend und nicht korrupt”, gegenüber 24 Prozent vier Jahre zuvor. Diese Erosion politischer und pesönlicher Zustimmung ist eine schwere Hypothek für die kommende Zeit.

Doch zurück zu Pussy Riot. Wer hat nun von dem Prozess profitiert? Verloren hat sicher die Russisch-Orthodoxe Kirche. Der Aufruf zu harter Strafe durch den Sprecher des Außenamts des Moskauer Patriarchats, Wsewolod Tschaplin, hat das Bild einer eng mit dem Staat verflochtenen, alttestamentarisch-rachsüchtigen und strafenden Kirche hinterlassen.  Äußerungen anderer Priester (z.B. des intellektuellen enfant terribles der Orthodoxie, des Diakons Andrey Kurajew, bei weitem kein Verfechter liberaler Ideen), die zu Milde, Vergeben und einer angemesseneren Strafe (wie z.B. ein paar Stunden gemeinnütziger Arbeit) aufriefen, wurden dahinter kaum mehr gehört. Die sozialen Netzwerke im Internet sind voll von Beiträgen nach dem Muster, das sei ein zumindest dumme Aktion gewesen, die man, als gläubiger oder auch nicht gläubiger Mensch nicht gut heißen könne. Aber die lange U-Haft und nun erst das Zwei-Jahre-Urteil, seien einfach absurd. Mag sein, dass sich die Kirche, wie vielleicht auch der Kreml von anfänglichen Umfragen leiten ließ, in denen knapp die Hälfte der Befragten eine siebenjährige Lagerhaft für angemessen hielten. Doch spätestens im Mai/Juni kippte auch hier die Stimmung.

Verloren hat auch der Kreml. Erfreulicherweise sind drei junge Frauen, zwei von ihnen zudem mit kleinen Kindern im Vorschulalter, für den Staat in Russland ganz offensichtlich nicht das geeignete Objekt, Härte zu zeigen und dadurch Popularität zu gewinnen. Ob die Opposition gewonnen hat, wird sich zeigen.