Warum die russischen Liberalen und Demokraten sozialer werden müssen, wollen sie eine Machtperspektive gewinnen

In den Moskauer Straßen spielen seit der Amtseinführung Putins vor nun schon über zwei Wochen DemonstrantInnen und Polizei Katz und Maus. Die Katzen gewinnen meist, aber Mäuse gibt es bisher einfach mehr. Während der kurzen Zeiten, bevor die immer neuen Lager an immer neuen Orten abgeräumt werden, wird viel diskutiert, organisiert, mit Vorträgen und Moderation und natürlich einfach so. Fast immer geht es um die richtige Strategie des Protest (oder, wie manche sagen, des Widerstands) gegen das Putinregime. Gemäß der Vielfältigkeit der Protestierenden gehen die Meinungen weit auseinander. Das gilt sowohl für die Methoden als auch die Ziele als auch die Perspektiven.

Soweit, so normal. Eine noch recht junge Bewegung braucht Zeit, vor allem, wenn sie öffentlich von oft gar nicht mehr so jungen (um nicht zu sagen oft schon „verbrannten“) Personen repräsentiert wird. Putin scheint da, nach der winterlichen Schockstarre, schon weiter. Er sucht das Bündnis mit fast allen Anti-Modernisten in der wohl nicht ganz so falschen Annahme, dass das immer noch mehr seien als diejenigen, die Veränderung wollen. Das sind die Menschen, die gemeinhin im Land als „Putinmehrheit“ bezeichnet werden. Und sie einigt vor allem die Furcht vor einer „Rückkehr der 1990er Jahre“.

Beispielhaft mag dafür Igor Cholmanskich stehen, Montageleiter der Waggonfabrik „Uralwagonsawod“ in Nizhnyj Tagil, einer Industriestadt im Ural, den Putin vorige Woche zu seinem Bevollmächtigen im Uraler Föderalbezirk machte. Arbeiter dieser Fabrik hatten im Winter als Reaktion auf die Protestdemonstrationen erklärt, sie seien bereit nach Moskau zu kommen, um Putin zu schützen. Das war das alte Lied vom einfachen aber ehrlichen Arbeiter, der den kopflastigen Nichtsnutzen mit Universitätsabschluss zeigt, was „das Volk“ so denkt. Mit der Ernennung von Cholmanskich sendet Putin das Zeichen, seine Politik werde in den kommenden Jahren sozialer, sich mehr um die Bedürfnisse der „einfachen“ Menschen kümmern. Das ist fast überall auf der Welt populär.

Und damit ein Problem für die Protestierenden, die sowohl personell als auch ideologisch mit den in Russland sogenannten „Rechten“ verbunden werden. „Rechts“ meint hier weniger „konservativ“ oder gar „nationalistisch“ als vielmehr „liberal“ oder noch genauer „wirtschaftsliberal“. Denn die Revolution, die wir Perestroika nennen, war eine liberale Revolution, eine Revolution der Bürgerrechte, keine der sozialen Rechte (auch wenn die Hoffnung auf ein materiell besseres Leben, ein „westliches“ Leben sicher stark mitgeschwungen hat). Diese Hoffnung wurde in den 1990er Jahren, als die russischen „Rechten“ (also die Liberalen) an der Macht beteiligt waren, enttäuscht (ob sie daran nun Schuld waren oder nicht) und erst von Putin erfüllt (wie viel er dazu nun auch immer durch seine Politik beigetragen haben mag oder nicht).

Genau dieses Problem brachte die Moskauer Politologin Tatjana Worozhejkina Anfang März in einem Artikel in der Nowaja Gaseta und Ende März in einem auf diesem Artikel fußenden Vortrag unter der Überschrift „In diese Falle sind wir schon einmal getappt“ bei den 3. Chodorkowskij-Debatten in Berlin in Berlin auf den Punkt. Sie argumentiert, dass es für die demokratische (sprich: liberale) Opposition gegen Putin keine Machtperspektive gibt, wenn sie erneut, wie in den 1990er Jahren soziale Fragen vernachlässigt: Demokratie könne besonders in Russland nicht ausschließlich liberal sein, sie müsse sozial werden.