Drei Wochen Proteste in Russland – eine kleine Zwischenbilanz

Drei Wochen nach der Dumawahl ist Russland zwar noch kein anderes Land, aber eines, das sich, wie es der Zivilgesellschaftsrat beim Präsidenten am vergangenen Freitag ausdrückte, „in einer neuen Realität“ wieder findet. Das ist umständlich aber durchaus fein gesagt. Es ist etwas ins Rollen gekommen. Erstmals wird Putins Macht wirklich in Frage gestellt. Ein Zurück gibt es nicht mehr. Das Russland nach den Präsidentenwahlen wird anders aussehen. Hier eine kleine, bei weitem nicht vollständige Zwischenbilanz. Es geht alles so schnell. Auch deshalb wohl gleicht das Folgende, der Dynamik angemessen, mehr einer Materialsammlung als einer schon bis zu Ende durchdachten Erklärung.

Politische Dynamik der Hybris
Trotz zahlreicher Warnungen selbst aus den eigenen Reihen, haben die Kremlmachtmonteure offenbar bis zum Schluss geglaubt, den immer größer werdenden Vertrauensverlust, erst in die unteren politischen Ränge, dann aber immer weiter hoch bis zu Putin, polit-technologisch im Griff zu haben. Dann wurden sie, nach dem Wahltag, von der politischen Dynamik überrollt. Seither ist jede schnell aufgebaute Verteidigungslinie innerhalb weniger Tage gerissen:

  • Die
    Forderung auf Überprüfung der Wahlergebnisse direkt nach dem Wahltag beantworte Medwedjew mit dem schon sprichwörtlich gewordenen Lob an den Vorsitzenden der
    zentralen Wahlkommission Wladmir Tschurow, er sei „fast ein Zauberer“, da er so saubere Wahlen hinbekommen habe.
  • Am
    Samstag darauf, am 10. Dezember, bei der ersten großen Demonstration auf dem Bolotnaja Ploschtschad war die Hauptforderung schon Neuwahlen. Als Antwort folgten im Laufe von zwei Wochen erst Putins Ankündigung, gefilterte Direktwahlen von Gouverneuren wieder zuzulassen, und dann verkündete Medwedjew, dass auch die Parteienzulassung erheblich erleichtert werde (im Gespräch ist eine tatsächlich grundsätzliche Senkung der Mindestmitgliederzahl von gegenwärtig 45.000 auf 500)
  • Am vergangenen Samstag, 24. Dezember, auf dem Sacharow-Prospekt war die Neuwahlforderung bereits eine Selbstverständlichkeit und viele Losungen und Forderungen von der Tribüne gingen direkt gegen Putin. Sie reichten von Rücktritt bis zum verzicht auf die Kandidatur bei den Präsidentenwahlen. Das wurde noch am Sonntag von Putins Sprecher Dmitrij Peskow mit den Worten zurück gewiesen, Putin  sei bei den Wahlen am 4. März 2012 „konkurrenzlos“.

Von dem, was tief im Hinterland, militärisch gesprochen in der Etappe, an Verteidigungslinien aufgebaut wird, soll weiter unten die Rede sein.
 
 

Politisches Erwachen oder neue Politisierung
Vielleicht die wichtigste Entwicklung der vergangenen Wochen sind viele neue Leute bei den Protesten. Leute also, die sich bisher von politischen Aktionen, geschweige denn Straßenprotesten fern gehalten haben. Das wurde schon deutlich, als kurz vor der Wahl eine kleine WahlbeobachterInnenbewegung formierte, wurde am 10. Dezember auf der ersten Großdemonstration deutlicher und war am 24. Dezember auf dem Sacharow-Prospekt unübersehbar. Dort war viel Mittelklasse, gekleidet aus der Welt der großen Modeketten, aber auch Pelze und Stöckelschuhe, neben älteren, eher ärmlich gekleideten, wenn auch deutlich wohlgebildeten Menschen (aus der alten, noch sowjetischen Intelligenzija), viele junge Leute mit offenen Gesichtern und natürlich die Alternativszene, inklusive vieler kleinerer und größerer linker
bis rechter Grüppchen.

Selbst das ein wenig von der Leine gelassene landesweite Fernsehen ging darauf ein und zeigt Büroangestellte bei Staatsbetrieben, Kleinunternehmer und StudentInnen, die erklärten, warum sie nun, das „nun“ ist wichtig, auf die Straße gehen. Die aufgenommenen Motivationen lassen sich in einfachen Sätzen zusammen fassen: Wir sind betrogen worden. Das lassen wir uns länger nicht gefallen. Es reicht.

Diese Einfachheit verführt aber schon zu wahrscheinlich verfrühten Schlüssen. Gelb Pawlowskij, vom Putin-Macher zum Putin-Kritiker (aber nicht Oppositionellen) mutierter Inbegriff des Polittechnologen, nennt die Protestierenden „Putins Kinder“. Das ist durchaus zweideutig. Zum einen sind es diejenigen, die unter Putin erwachsen geworden sind, unter seiner Herrschaft ihre Werte und ihre politische Haltung ausgebildet haben. Zum anderen sind es aber, aus Pawlowskijs Sicht, auch diejenigen, die unter Putin gut gelebt haben (und sich kaum an 1990er Jahre erinnern können).

Ein gewisses Bild davon, wer am 24. Dezember auf dem Sacharow-Prospekt war, gibt auch eine Levada-Umfrage unter den Protestierenden. Demnach waren es überproportional junge Menschen (25 % zwischen 18 und 24, 31 %
zwischen 25 und 39), gut ausgebildete (62 % mit Hochschulabschluss), in entsprechend guten beruflichen Positionen (46 % bezeichneten sich als Fachleute in ihren Berufen, 25 % nehmen Führungsaufgaben wahr, darunter 8 % als Inhaber eines eigenen Unternehmens). Auch die Verteilung politischer Überzeugungen ist interessant. 69 % der befragten nannten sich „Liberale“ oder „Demokraten“. Relativ groß war noch der Anteil der Kommunisten mit 13 %, der Sozialisten oder Sozialdemokraten mit 10 %. Rechte Überzeugungen gab dagegen nur eine kleine Minderheit an (6 % „National-Patrioten“). Das spiegelt sich auch darin wider, für welche Partei die Befragten am 4. Dezember gestimmt haben (38 % für Jabloko, 19 Prozent für die Kommunisten, 12 % für Gerechtes Russland, 13 % hatten gar nicht an der Wahl teilgenommen).

Für die Mobilisierung hat, wie von vielen angenommen, das Internet eine große Rolle gespielt. Etwa zwei Drittel der Befragten nutzen regelmäßig oder „von Zeit zu Zeit“ das Internet, 89 % (hier waren Mehrfachantworten möglich, aber die 89 % sind mehr als die Hälfte aller gegebenen Antworten) hatten von den Protestaktionen durch das Internet erfahren.

Gibt es eine Oppositionsstrategie?
Spontan würde ich antworten, ja und nein. Die bisherige Strategie ist es, möglichst niemanden auszuschließen und den Kreis der Protestierenden möglichst groß zu halten. Das geht bis hin zu offen nationalistischen Kreisen (worüber es die größten Auseinandersetzungen bisher gibt). Immer wieder wird von den OragnisatorInnen betont, die Proteste seien „zivilgesellschaftlich“, aber keinesfalls „politisch“. Die Forderungen beziehen sich bisher ausschließlich auf die Nichtanerkennung der Wahlergebnisse, auch wenn der Ruf nach einem Rücktritt Putins oder seinem Nichtantritt bei den Präsidentenwahlen immer häufiger zu hören ist. Die Betonung des „nicht politisch“ Seins rührt aber auch von der Angst, die neuen Leute nicht sofort wieder zu verlieren, denn „Politik“ ist in Russland stark mit negativen Assoziationen wie Machtkampf, Schmutz, Posten- und Parteiengerangel und Ähnlichem belegt.

Wohl auch deshalb haben sich bisher keine deutlichen Führungspersonen heraus kristallisiert, vor allem keine neuen, bisher einer größeren Öffentlichkeit unbekannte. Alle, die bisher auf den Tribünen stehen und viel zitiert werden, die um den Runden Tisch der OrganisatorInnen sitzen, haben schwerwiegenden Mankos. Die einen (wie Ryschkow, Nemzow, Kasjanow) sind von „damals“, also aus den 1990er Jahren übrig geblieben. Sie sind für große Teile der Bevölkerung eng mit den vom Putin-Regime geförderten (mitunter auch erzeugten) Attirbuten wie Chaos, Armut, Erniedrigung, Abstieg und auch der sogenannten „Oligarchenherrschaft“ verbunden. Ich wage die Prognose, dass niemand von ihnen die Chance hat zu einer öffentlichen, vor allem aber in weiten kreisen anerkennten Führungsfigur zu werden.
Andere, Neue (z.B. Nawalnyj, Tschirikowa) haben keine politische Erfahrung, sind oft zu offen zu ehrgeizig, das heißt auch, dass sie inhaltlich jenseits ihrer Kernkompetenz oft beliebig sind. Wieder andere haben zu offenbar sektiererische Ansichten, darunter viele aktive aus der radikalen, außerparlamentarischen Linken.
Bliebe noch die gerade erst entstehende Gruppe der sich von Putin abwendenden Konvertiteten, wie der ehemalige Finanzminister Kurdin. Kudrin sprach am 24. Dezember auf der Kundgebung, forderte Änderungen des Wahlrechts und Neuwahlen innerhalb eines Jahres, wurde aber von allen RednerInnen am meisten ausgepfiffen. Die Konversion ist wohl einerseits noch zu frisch, andererseits verbinden die meisten Menschen mit Kudrin neoliberale Wirtschaftsreformen, also eher das hässliche, unsoziale Gesicht des Putinismus.

Als Illustration möchte ich den Post einer Facebook-Freundin zitieren: „Ich habe nicht verstanden, wer eine Führungsrolle einnehmen möchte. Nawalnyj und Kasjanow redeten hysterisch. Ryschkow hat sich sehr verändert, hat sich aber wie ein Moderator verhalten und offenbar Angst die Rolle eines Anführers zu übernehmen. Kudrin war vernünftig, sympathisch, aber mit der Rhetorik eines Experten oder außen stehenden Ratgebers. Emotional haben die Nationalisten alle überspielt. Jaschin war klein. Talentiert, aber jung. Kasparow hatte plötzlich einen armenischen Akzent und sah wie ein unangenehmer Alter aus. Jawlinskij… irgendwie gläsern. Dabei gab es nicht das kleinste Anzeichen von Konsolidierung. Starke Redner wie Akunin, Schewtschuk und, zumindest heute, Sobtschak sind verpufft. Dem Auditorium hatten sie nichts Neues zu sagen.“

Dieses Vakuum spürt natürlich auch der Kreml. Noch am Sonntag erklärte Putins Sprecher Dmitrij Peskow, Putin sei bei den Präsidentenwahlen „konkurrenzlos“. Am Dienstag (27.12.) ging Putin darauf ein, indem er den DemonstratInnen Orientierungslosigkeit vorwarf. Sie könnten zwar Protestieren, es gäbe dort aber niemanden, der etwas aufbauen könne. Tatsächlich werden in den kommenden Wochen die wohl wichtigsten beiden Fragen die sein, ob sich einige (nicht allzu viele) öffentlich anerkannte Führungspersonen heraus bilden, und danach, ob sich eine Mehrheit der Protestierenden auch auf positive politische Forderungen verständigen kann.   

Entwicklungsszenarien – was macht Putin?
Eine von Stalins berühmtesten Aussagen ist, dass „Kader alles entscheiden“. Nun kann man sich sicher, auch ohne in moralische Bedrängnis zu geraten, in Machtfragen auf diesen alle überragenden brutalen Zyniker berufen. Gleichzeitig mit den oben bereits beschriebenen Zugeständnissen an die Protestierenden hat Putin damit begonnen, Kremladministration und Regierung umzubauen. Und zwar so gründlich, dass die Annahme nahe liegt, es handele sich hier um grundsätzliche Weichenstellungen für die Machtstruktur seiner angenommenen neuen Präsidentschaft. Die bisher Wichtigsten seien kurz aufgeführt.

Als erstes wechseltet Sergej Naryschkin vom Posten des Leiters der Präsidentenadministration als deren Vorsitzender (Parlamentspräsident) in die Duma. Naryschkin kommt, kaum verwunderlich, aus dem KGB/FSB, und hat vorher schon in der Regierungsverwaltung (so was wie das Kanzleramt) gearbeitet. Er ist kein öffentlicher Politiker, eher der Typ grauer, aber durchaus effektiver Manager. Dann wurde Sergej Iwanow, bisher Vizepremierminister und für den militärisch-industriellen Komplex zuständig zum Leiter der Präsidentenadministration, also zum Nachfolger von Naryschkin gemacht. Auch Iwanow stammt aus dem KGB/FSB und ist ein alter Putin-Gefährte. Als nächstes rotierte Dmitrij Rogosin vom NATO-Botschafter-Posten in Brüssel auf Iwanows vakanten Platz in der Regierung. Dann muss man hier Wladislaw Surkow nennen (allgemein als „grauer Kardinal“ Im Kreml bekannt, oft auch „Erfinder der gelenkten Demokratie“ genannt). Surkow rückt vom Kreml in die Regierung, wird einer der Stellvertreter des neuen Premiers (noch immer ist Medwedjew dafür vorgesehen) und dort für „Modernisierung“ zuständig sein. Für Surkow in den Kreml, als erster stellvertretender Administrationschef zuständig für Innenpolitik (also für die „Lenkung der Demokratie“), rückt Wjatscheslaw Wolodin, bisher Chef des Apparats der Regierung. Nimmt man den Wechsel zwischen Medwedjew und Putin hinzu, so entsteht der überragende Eindruck eines Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiels, nachdem irgendwie alles so ist, wie es vorher war. Warum das also?

Ein Grund könnte sein, dass hier zwei sich widersprechende Notwendigkeiten aufeinander treffen: Auf der einen Seite ist es Putins Prinzip, seine Leute nicht fallen zu lassen (so sie nichts Böses getan haben). Auf der anderen Seite ist der (Ver-)Änderungsdruck angesichts der wachsenden Unzufriedenheit im Land groß (das gilt nicht nur wegen der Wahlen, dazu gehören auch Korruption, die Degradation von Bildungssystem und Gesundheitssystem, die Willkür der Polizei und anderer „Machtorgane“, ja selbst die sich durchsetzende Einschätzung, dass e wirtschaftlich nicht mehr so schnell besser wird wie bisher). Es muss also zumindest der Anschein von Aktivität, energischem Angehen der Probleme erzeugt werden. Vielleicht steckt hinter den Umstellungen aber auch das alte Misstrauen des Geheimdienstlers, die Leute nicht zu lange in der gleichen Konfiguration zusammen arbeiten zu lassen, damit es schwieriger wird, Kartelle oder Clans gegen ihn zu bilden.

Wie dem auch sei, ich werde den Eindruck nicht los, dass sich hinter diesen Umsetzungen der gleichen (alten) Gesellen noch ein weiteres Problem verbirgt: Es gibt keine neuen, zuverlässigen, guten Leute, nur die mit dem alternden Herrscher alter geordenen Genossen. Das System Putin hat es, trotz einer ganzen Reihe von (auch
öffentlichen) Versuchen, wie die unter Medwedjew eingeführte so genannte «Kaderreserve des Präsidenten», nicht geschafft effektive Mechanismen für horizontale und vertikale Mobilität innerhalb der Herrschaftsstrukturen zu schaffen.

Vielleicht sind die Umsetzungen aber auch nur die Vorbereitung für den harten Kurs, der unweigerlich kommen muss, wenn man Andrej Illarionow glaubt, vor einigen
Jahren im Streit geschiedener Wirtschaftsberater von Putin. Illarionow ist sich sicher, dass Putin und seine Leute weiter glauben, alles unter Kontrolle zu haben. Die gegenwärtigen Zugeständnisse an die Protestierenden seien zu nichts anderes da, als Zeit zu gewinnen und zu schauen, ob sich nicht alles von
alleine in Wohlgefallen auflösen werde. Doch das Hauptargument Illarionows (und anderer), warum es mit Putin keinesfalls wirkliche demokratische Reformen geben kann und warum Putin niemals freiwillig die Macht abgeben wird ist ein anderes. Im Gegensatz zum Machtwechsel von Jelzin zu Putin gibt es niemanden, der Putin die Garantie geben könne, dass ihn nicht das Schicksal von Mubarak oder Ghaddafi ereilt. Eine Garantie, die Putin damals Jelzin und der „Familie“ genannten Machtgruppe um ihn gegeben und eingehalten hat. Illarionow ist deswegen überzeugt, dass sich die gegenwärtige weiche Variante eines autoritären Regimes über kurz oder lang
in eine ausgewachsene Diktatur verwandeln wird. Dieses starke Argument macht den amorphen Zustand der Opposition zu einem doppelten Problem. Sie ist nicht stark genug, den Machtwechsel zu erzwingen und auch nicht stark genug, ihn zumindest für einen Teil der bisherigen Machtelite, wenn nicht attraktiv, so doch zumindest zum
kleineren Übel zu machen. Der Machtverlust bleibt für die Leute um Putin das größte Risiko, für das eigene materielle Wohlergehen, ja vielleicht so gar für
Freiheit und Gesundheit. Viel kommt hier übrigens auf den Westen an, denn ein Großteil von Vermögen und Familien der russischen Machthaber befindet sich in
der EU und in den USA.