Putin und der Protest oder Prochorow reloaded

Nach ein paar Tagen Ratlosigkeit (die mehr als Tausend AntiwahlfälschungsdemonstrantInnen mit bis zu 15 Tagen Arrest bezahlt
haben) scheinen Wladimir Putin und seine Leute eine Linie gefunden zu haben, wie sie mit dem für sie neuen Gegenwind umgehen soll. Neu ist diese Linie  nicht. Eher eine Reinszenierung. Ich möchte sie «Prochorow reloaded» nennen. Im Grunde versucht Putin etwas Unmögliches: Die Zeit zurück zu drehen. Mal sehen, ob es gelingt.

Schon die stecken gebliebenen, eher mit Medwedjew als mit Putin in Verbindung gebrachten Modernisierungsversuche der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass es ohne die großstädtischen, gebildeten, erfolgreichen Schichten schwer ist an der Macht zu bleiben. Jedenfalls wenn man sich nicht auf das Terrain rechts- oder linkspolulistischer Schwenke begeben möchte. Die Versuchung dazu besteht zwar durchaus, aber möglichst «gelenkt» soll es auch dabei zugehen. Bei zu scharfen Bewegungen drohen aber in beiden Richtungen «echte», sozusagen authetischere Links-  oder Rechtspopulisten als Putin aufzutauchen,
die dann den Laden übernehmen könnten. Offenbar erscheint das dem ideellen Gesamtkreml gefährlicher als der Tanz mit den weitgehend als blutlos
empfundenen Liberalen.

Folglich war die heutige, ganz offensichtlich mit Putin abgstimmte Medwedjew-Rede vor beiden Parlamentskammern ein echtes Déjà-vu. Das alles haben wir schon mehrfach gehört, vor allem im Herbst 2009 und auch danach immer mal wieder. Mit Ankündigungen zur Modernisierung des politischen
Systems ging Medwedjew sogar über alles Bisherige hinaus: Schaffung eines öffentlich kontrollierten Öffentlich-Rechtlichen Fernsehens, Änderungen des
Wahlsystems, Wiedereinführung der Direktwahl der Gouverneure und noch einiges andere mehr. Allein, es fehlt der Opposition der Glaube. Zu oft ist das alles
schon folgenlos gesagt. Und nun, unter dem Druck der massiven Proteste gegen die Wahlfälschungen klingt es mehr ängstlich als überzeugt. So ist das oft mit verzögerten politischen Initiativen.

Im Frühjahr hatte Putin die «Strategie 2020» aus der Taufe gehoben. Er beauftragte eine ExpertInnenkomission unter Leitung des liberalen Wirtschaftswissenschaftlers Wladimir Mau (Rektor der staatlichen Akademie für Volkswirtschaft) mit der Ausarbeitung eines Wirtschaftsprogramms bis 2020. Ganz offenbar ein Präsidentenprogramm. Mau nahm vorwiegend liberale WissenschaftlerInnen in die Kommission, darunter viele ausgessprochene
KremlkritikerInnen. Was bis zum Sommer an Ergebnissen der Kommissionsarbeit bekannt wurde, lässt sich ganz kurz wie folgt zusammen fassen: In den ersten drei Amtsjahren des neuen Präsidenten müssen Wirtschafts- und Sozialsystem radikal reformiert werden. Das führt aller Voraussicht nach zu großem Unmut und Widerständen bei großen Teilen der Bevölkerung, insbesondere bei Ärmeren und von Staatstransfers Abhängigen und im Beamtenapparat.

Durchsetzen lässt sich eine solche Reform nur mit Unterstützung der bereits erwähnten  großstädtischen, gebildeten, erfolgreichen Schichten, die aber nur über bessere politische Beteiligung zu erlangen ist. Wohl daraus, vielleicht auch parallel entstandt
das zweite «liberale» Putinprojekt. Überraschend übernahm im Spätfrühjahr der
Milliardär Michail Prochorow den kremlgesteuerten Parteidummy «Rechte Sache»
(Prawoje Delo), um ihm neues Leben einzuhauchen. Prochorow war bis dahin mit
Leidenschaften für Sport und Glamour aufgefallen, allerdings nicht mit
Interesse für Politik. Das galt damals eher als Vorteil, weil fast alle anderen
als liberal bekannten und belabelten den Buckel der 1990er Jahre wie ein
Kainsmal mit sich herumtragen.
Doch schon im Sommer, die Umfragewerte für
Einiges Russland (wenn auch noch weniger für Putin selbst) sanken, wurden beide
Projekte, Prochorow und die Strategie 2020, recht überraschend gecancelt (wer,
wann, wo diese Entscheidung traf, ist unbekannt, zumindest uns). Am 24.
September erklärte Medwedjew dann Putin zum erneuten Präsidenten (und machte
sich selbst zum Hanswurst). Der Rest ist bekannt und hier ausführlich
beschrieben.
Die neue Situation nach den Wahlen ist so neu
also nicht. Antizipiert wurde sie in den Kremldenkzimmern schon lange.
Allerdings unter anderen Vorzeichen. Bei allen Denkspielen, soweit ich das
beurteilen kann, wehte der Wind immer noch in Putins Rücken. Putin war die
Ressource auf der alles aufbaute. Doch nun hat sich der Wind gedreht. Zumindest
im Moment weht er auch Putin ins Gesicht.
Insofern ist die zumindest teilweise Rückkehr
zum Szenariums im Sommer, der «reset of the matrix», die hängen geblieben ist,
das Projekt «Prochorow reloaded» ein ganz neuer Versuch auf weit unsichererem
Grund. Das zeigte auch das seltsame Changieren von Wladimir Putin in seiner Viereinhalbstundenfernsehseancevor
einer Woche, am 15. Dezember. Immer wieder wechselte er von Zugeständnissen an
die Protestierenden («verstehe den Protest», «die Menschen haben das Recht…»,
halbherzige Wiedereinführung der Gouverneurswahl, Internetkameras in alle
Wahllokale) zu Drohungen und Ausfällen im alten Stil (die mehrfach wiederholte
Lüge, dass die OrganisatorInnen der Demonstration am 10.12. die
DemonstrantInnen als «Hammel» bezeichnet hätten; die erneute Behauptung, die
DemonstratnInnen würden aus dem Ausland bezahlt).
Schon eine Woche später geht Medwedjew
zumindest in seinen Worten ein paar liberale Schritte weiter. Was im Sommer,
vor vier, drei zwei oder einer Woche noch ausgereicht haben mag, könnte nun
nicht mehr genug sein, den Protest aufzuhalten. Trotzdem könnte die Strategie
aufgehen, wenn sie denn konseuqent durchgehalten würde. Dazu müssten die
Präsidentenwahlen aber wirklich echt aussehen, zumindest aussehen. Ob das mit
Prochorow als «liberalem Kandidaten» gelingt, ist fraglich. Sein oben
beschriebener Vorteil, jemand von außerhalb, in der Politik noch nicht aufgefallen
zu sein und trotzdem mit  dem (reichen)
Establishment verbunden, der ihn vielleicht für breitete Kreise wählbar macht
(so sie sich nicht am Reichtum stören, von dem jeder im Land überzeugt ist,
dass er zusammengeraubt wurde), wird kontekariert eben durch den fehlenden
Stallgeruch. Das Label «Kremlknecht» kann sehr leicht an ihm hängen bleiben.
Damit verlöre er seine für den Kreml wohl wichtigste Funktion: Den Wahlen und
damit dem darin gewählten Präsidenten (selbstverständlich Putin) als «echter» Oppositioneller
die Legitimität zu verleihen, die er momentan immer mehr verliert.
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die zur
Wahl zugelassene Kandidatenliste (mit der Ausnahme Prochorows eben) an den Film
«Und ewig grüßt das Murmeltier» erinnern wird: Putin, Sjuganow, Schirnowskij,
Mironow, Jawlinskij. Das hatten wir schon 2008 und 2000 (Schirinowskij,
Skuganow und Jawlinskij haben sogar schon 1996 kandidiert). Nur 2004, als
Putins Sieg von vornherein feststand, kniffen Sjuganow und Schirinowskij und ließen
zwei Pappkameraden kandidieren, Jawlinskij wurde 2008 die Kandidatenzulassung
verwehrt.
Selbst Kremlberater wie Sergej Belanowskij vom Zentrum für Strategische
Ausarbeitungen warnen davor
, dass das alles nicht ausreichen werde. Nur
tatsächliche Reformen, eine „Rückkehr zur Verfasssung“ mit der Annulierung der
gefälschten Dumawahlen, echten Direktwahlen der Gouverneure, Aufhebung der
Zensur im Fernsehen und der Beschränkungen für die Kandidatur zur
Präsidentenwahl könne den Legitimitätsverfall der gegenwärtigen politischen
Führung noch aufhalten. Putin, so Belanowskij ein wenig pathetisch, könne zwar
die Wahl gegen Prochorow gewinnen, aber nicht gegen die Wähler.

Es sieht bisher noch
nicht danach aus, ob die Dramatik dieser Botschaft bei Putin und seinen Leuten schon
angekommen ist.


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