Pilorama-Festival und Lagermuseum Perm-36 – Territorien der Freiheit

Am vergangenen
Wochenende fand in Perm-36, einem ehemaligen Politgefangenenlager und heute
einzigen Gulag- und Lagermuseum Russlands, das 6. Festival „Pilorama“ statt
(„Pilorama“ ist ein  Sägewerk, die wichtigste
Maschine im ehemaligen Arbeitslager). Mehrere Tausend TeilnehmerInnen und
BesucherInnen diskutierten zwei Tage über „20 Jahre danach“, das Ende der
Sowjetunion, schauten Filme und Theateraufführungen, lauschten bekannten
russischen „Barden“ (deren Bedeutung in der zensierten Sowjetunion mit dem
deutschen Wort „Liedermacher“ nur sehr, sehr unzureichend übersetzt ist) und
eher unbekannten, weil neuen, noch jungen Rockgruppen.
 

Aus Moskau und
St. Petersburg kamen viele bekannte NGO-AktivistInnen, einige bekannte
Oppositionspolitiker, Musiker und SchauspielerInnen. Die meisten BesucherInnen
kommen aus der Region, aus der etwa 100 Kilometer entfernt liegenden
Millionenstadt Perm oder den umliegenden Regionen wie Swerdlowsk (mit der
Hauptstadt Jekaterinburg), Baschkirien, Udmurtien oder Kirow.
 

Das erste
Pilorama-Festival 2005 war eigentlich nur als kleines Jubiläumsfest für das
seit Zehnjahren bestehende Lagermuseum gedacht. Es kamen ein paar Barden,
zahlreiche ehemalige Häftlinge und ein paar bekannte MenschenrechtlerInnen aus
Moskau. Doch der Zuspruch war von Anfang an groß und so entwickelte sich
schnell das jetzige große Treffen, mit einem mehrere hundert Zelte zählenden
Lager am Ufer des Flusses Tschussawaja und vielen, vielen Tagesgästen.
 

Um die Bedeutung
des Festivals verstehen zu können, ist ein kleiner historischer Abriss über das
Lager nötig. An diesem Ort, am Ufer der Tschussowaja, rund 40 Kilometer
flussabwärts der Monostadt Tschussowoj mit einem rieseigen Metallurgiekombinat,
wurde Ende der 1940er Jahre ein Arbeitslager eingerichtet, in dem die von
tausenden Häftlingen gefällten Bäume aus der gesamten Gegend gesammelt wurden,
um sie mit dem Frühjahrshochwasser Richtung Perm zu schwemmen.
 

Wegen der großen
Bedeutung für die Holzindustrie wurde das Lager auch nach Stalins Tod nicht
geschlossen, wie die meisten anderen Gulag-Lager, sondern veränderte nur seine
Bestimmung. Anstelle der oft aufgrund konstruierter Anklagen internierten
Gefangenen, füllten das Lager nun, Mitte der 1950er Jahre straffällig gewordene
Milizionäre und Staatsanwälte. Meist hatten sie, im Gegensatz zu ihren
Vorgängern (es war und sollte bis zum Schluss ein Männerlager bleiben)
tatsächlich etwas getan. Dies blieb so bis 1972.
 

Seit Mitte der
1960er Jahre gab es in der Sowjetunion wieder (und erstmals unter dieser
Bezeichnung) politische Gefangene (die meisten waren Dissidenten oder stammten
aus den nationalen Bewegungen in der Ukraine und im Baltikum). Sie waren vor
allem in Lagern in der kleinen Republik Mordowien untergebracht, nur 400 bis
500 Kilometer südöstlich von Moskau. Anfang der 1970er Jahre führten zwei Dinge
dazu, dass diese Lager dem KGB nicht mehr genügten: Zum einen bereitete man
sich wegen der zunehmend aktiven Dissidenten und Separatisten auf bedeutende
mehr politische Gefangene vor, zum anderen erwiesen sich die Lager in Mordowien
als wenig zuverlässig, die Dissidenten als zu wenig von der Außenwelt isoliert.
Höhepunkt der Peinlichkeit für den KGB war eine Audioaufnahme, die aus einem
Lager und dem Land geschmuggelt wurde und über Radio Swoboda in die Sowjetunion
und in ale Welt zurück gesendet wurde. Das war die Geburtsstunde von Perm-36.
 

Die
Verbrecher-Milizionäre wurden verlegt, einige Umbauten vorgenommen und die
politischen Gefangenen ins Lager gebracht. Nur eines änderte sich nicht: Auch
sie mussten sich am Holz abarbeiten. Diesem Arbeitslager, in dem unter anderem
Sergej Kowaljow saß, einer der bekanntesten sowjetischen Dissidenten,
Mitarbeiter und Freund von Andrej Sacharow und später, viel später unter Präsident
Boris Jelzin der erste russische Menschenrechtsbeauftragte, diesem Arbeitslager
also wurde 1980 ein zweites, kleineres Lager zugesellt, ein „Lager zu besondere
Bestimmung“.
 

Hier ist ein
kleiner Exkurs über das (spät-)sowjetische und heute noch in Russland gültige
Gefängnis- und Lagersystem nötig. Es gibt vier Kategorien von, wie es amtlich
heißt, „Orten des Freiheitsentzug“: 1. Die „Siedlung“, meist in einsamen
Gegenden liegende Gefangenendörfer, nur schwach bewacht für Kleinstverbrecher
und Gefangene kurz vor der Entlassung. 2. Das Lager des „allgemeinen Regimes“,
ein echtes Lager, mit Zaun und Stacheldraht, für die masse der Strafgefangenen.
3. Das Lager des „strengen Regimes“ für Schwerverbrecher oder Gefangene, die
der Staat, wie es so schön heißt, möglichst streng „von der Gesellschaft
isolieren“ zu müssen meint. Und 4. das Lager des „besonderen Regimes“, das
eigentlich kein Lager ist, sondern ein Gefängnis mit Zellen und größtmöglicher
Isolieren der Gefangenen auch untereinander. Hierher kommen in Russland nur zu
lebenslanger Haft verurteilte, meist sind das mehrfache Mörder,
Wiederholungstäter oder Menschen, die besonders grausam gemordet haben.
 

In der
nach-stalinschen Sowjetunion kamen für politische Gefangene nur die beiden
strengsten Lagerkategorien in Frage, also das „strenge“ und das „besondere“.
„Streng“ war die Regel, „besonders“ war den Separatisten und den besonders (!)
Renitenten vorbehalten. Perm-36 war also ab 1980 bis zu seiner Auflösung 1988
beides. Während sich in der „strengen Zone“ durchaus „leben ließ“, wie
ehemalige Gefangene sagen, war die „besondere Zone“ die Hölle.
 

Hier starb man
auch oder kam um, so wie der ukrainische Dichter Wassyl Stus im September 1985.
Durch einen Hungerstreik gegen verschärfte Karzerhaft geschwächt, hielt sein
Körper die Kälte in der kahl-kargen Einzelzelle wohl nicht mehr aus. Später
fand man heraus, dass die Wärmedämmung im Karzerbereich bewusst weit geringer
war als im übrigen Gefängnisgebäude. Es sollte dort den Unbotmäßigen ordentlich
kalt sein, sie zu strafen und sie zu brechen.
 

1988 dann, schon
in der Hochzeit der Perestrojka, wurden die meisten Gefangenen auf Anordnung
von Michail Gorbatschow frei gelassen, einige wenige ins Nachbarlager Perm-35
verlegt. Das Lager verfiel und wurde Ende der 1980er Jahre wohl auch
vorsätzlich vom KGB zerstört, einige Gebäude in Brand gesetzt, weil man
fürchtete, es könne, wegen Stus' Tod zum Wallfahrtsort für ukrainische
Nationalisten werden.
 

Nach dem Ende der
Sowjetunion gelang es Memorial, das Gelände vom Staat überschrieben zu bekommen
und den Status eines staatlichen Museums zu bekommen. 1995 begannen die
Restaurationsarbeiten, die bis heute nicht abgeschlossen sind. Immer wieder
fehlt das Geld und auch die historische Rekonstruktion ist nicht einfach. Erinnerungen
der Gefangenen, besonders an das „besondere“ Lager, widersprechen sich, die
ehemaligen Wächter sind oft wenig aufkunftsfreudig.
 

Trotzdem zieht
das Museum auch außerhalb des einen Pilorama-Juliwochenende mehrere Tausende
Besucher an. Es gibt Kooperationen mit Universitäten, vor allem im Westen, aber
auch mit ähnlichen Gedenkstätten in Deutschland (z.B. Dachau) und der
Gedenkstätte in Auschwitz. 

Überhaupt sind
Museum und Festival ein gutes Beispiel für die Doppeldeutigkeit der heutigen
russischen Wirklichkeit. Der Staat ist ganz oft beides: Helfer und Bedrohung.
Perm-36 wird von der Region Perm unterstützt, deren Gouverneur Oleg Tschirkunow
von Putin ernannt wurde und auch mal beim KGB-Nachfolger FSB das arbeiten
gelernt hat. Auch das Pilorama-Festivbal wird vom Staat unterstützt.
Tschirkunow hatte die Festival 2009 und 2010 besucht und in diesem Jahr, er ist
im Urlaub, einen seiner Stellvertreter geschickt. Und doch schauen die
Veranstalter eines Festivals, auf dem die gegenwärtige russische Führung hart
und ausdauernd kritisiert wird, vorsichtshalber nach Moskau und in andere
Städte, in denen am Sonntag Demonstranten bei ihren
Demonstrationsfreiheitsdemonstrationen am 31. Juli verhaftet wurden.
Wirklichen, sicher wirksamen Schutz gibt es nicht. Alles kann immer ganz
schnell vorbei sein.
 

Das war es dieses
Mal glücklicherweise nicht, nur Regen und eine plötzliche Kälte am Samstag
störten ein bisschen. Perm-36 und das Festival Pilorama bleiben ein Territorium
der Freiheit. Auch und gerade weil sie an einem lange so unfreien Platz sind.
Das nächste Festival findet in einem Jahr statt, wie immer am letzten des Juli.
Die Ankündigung kommt im Frühjahr auf der Website des Museums Perm-36.       

Ach so: Auch die Heinrich Böll Stiftung macht natürlich mit. In diesem Jahr mit Diskussionen über die Zukunft der russischen Zivilgesellschaft – 20 Jahre danach.        


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