Was die Menschen in Russland aufregt – zwei kleine Beispiele

Gelegentliche
Besucher des großen Russenreichs, durchaus mit den wichtigsten politischen
Entwicklungen des Landes vertraut, verwundert immer wieder ein – in ihrer
Wahrnehmung – paradoxes Auseinanderfallen.
 

Auf der einen
Seite ist das politische System offen autoritär, die Institutionen sind nur
Fassade, Entscheidungsstrukturen bleiben im Dunklen und wer versucht oder auch
nur in den Verdacht gerät zu versuchen, die politische Macht der herrschenden
Elite in Frage zu stellen, hat mit harten, oft rechtswidrigen Reaktionen  zu rechnen. Das alles riecht sehr nach
Diktatur.
 

Andererseits
können Frau und Mann überall frei reden. Das Internet, vielen Zeitungen und
auch Radiostationen (manchmal sogar das Fernsehen) quellen über vor Kritik an
Putin, Medwedjew,. Setschin, dem jeweiligen Gouverneur oder Bürgermeister, dem
Militär. Der Geheimdienst wird satirisch veräppelt, die Staatsanwaltschaft
verhöhnt, die Polizei in Gestalt der einzelnen Beamten auf der Straße (vor
allem in der Uniform der Verkehrspolizei) zwar wegen ihrer Willkür gefürchtet,
ansonsten aber tief öffentlich verachtet. Und nichts passiert. Das riecht sehr
nach Meinungsfreiheit.
 

Auf der ersten
Seite dieses Blogs behaupte ich, Russland sei keine Diktatur, aber auch keine
Demokratie. Oft muss ich mir Kritik anhören, die, mit Hinweis auf das eben
geschriebene, zumindest eine dieser beiden Behauptungen als falsch bezeichnet. Es
ist das schwer zu fassende am heutigen, mit Recht „putinsch“ zu nennenden
Russland, dass eben doch beides stimmt. Die Situation hat sich sogar, seit ich
diese Sätze vor rund drei Jahren schrieb, noch vertieft und verfestigt.
 

Und doch tut sich
unter der „betonierten Oberfläche“ (Alexander Ausan) des politischen Systems
einiges. Manchmal, ja immer öfter führt das sogar zu kleinen Rissen im Beton.
Wie Wurzeln im Untergrund kommen sie dort durch, wo der Widerstand am
geringsten, der Beton am dünnsten ist. Also da, wo das politische System keine
Politik erwartet, ja, sie angesichts des vorherrschenden Politikverständnisses
wohl auch nicht sehen kann. Es geht um das Privatleben.
 

Ja, Privatleben.
Einer der größten Unterschiede zwischen dem heutigen russischen Staat und dem
damaligen sowjetischen ist, dass ihn das Privatleben der Menschen, das, was
Soziologen die Lebenswelten zu nennen pflegen, nicht interessiert. Und damit
komme ich zum aktuellen Anlass dieses Blogeintrags.
 

Vor rund einer
Woche stand ein Aeroflot-Linienflug von Irkutsk nach Moskau, Türen schon
geschlossen, zum Abflug bereit, als der Tower den Flugkapitän aufforderte, zu
warten, weil die „erste Person“ (gemeint war damit der örtliche Gouverneur)
noch mitwolle, sich aber verspätet habe. Soweit, so wohl sehr gewöhnlich in den
russischen Weiten. Unerwartet wohl für alle war die Antwort des Piloten. Dies
sei ein Linienflug und kein Privatvergnügen, beschied er dem Tower, der
Gouverneur solle pünktlich sein und den nächsten Flug nehmen.
 
Da der Tower aber
keine Starterlaubnis erteilte und auch der örtliche Aeroflotbeauftragte
zustimmte, musste das Flugzeug warten, der Gouverneur kam an Bord und auf dem
sechsstündigen Flug nach Moskau wurde sogar noch ein wenig der verlorenen Zeit
wieder eingeholt.   
 

Mehr noch: Der
Gouverneur hatte sich per Bordfunk bei den übrigen Reisenden dafür
entschuldigt, sie aufgehalten zu haben. Ein Pressesprecher beeilte sich auch
sofort hinzuzufügen, dass sich niemand beschwert habe. Doch zu spät. Das
Gespräch zwischen Flugkapitän und Tower war bereits im Internet zu lesen und zu hören
:
 

Tower: „Hierher fährt
die Erste Person, und Sie werden sie dann an Bord lassen.“
 

Flugkapitän:
„Lassen Sie es uns so machen: Die Erste Person fliegt in ihrem eigenen Flugzeug
und ich transportiere Passagier. Das ist hier kein Privatflug, sondern ein
Linienflug. Und, ich bitte darum, dass Ihre Erste Person nicht den Abflug
verpasst. Dann wird sie auch mit uns fliegen.“
 

Tower: „Ich habe
Sie verstanden und werde es weiter geben.“
 

Flugkapitän:
„Lassen Sie bitte die Treppe entfernen.“
 

Tower: „Warten Sie
erst einmal.“
 

Flugkapitän: „Ich
habe die Türen schon geschlossen und lasse niemanden mehr an Bord.“
 

Tower: „Nein, wir
lassen Sie nicht abfliegen.“
 

Flugkapitän: „Na,
dann rufen Sie einen Bus. Ich fahre ins Hotel.“
 

Die Blogger-Sphäre
hatte sich diesem neuesten Beispiel für die Großherrlichkeit der russischen
Herren angenommen und der Kleinskandal nahm seinen Lauf. Sogar die
Transportstaatsanwaltschaft sah sich genötigt ein Untersuchungsverfahren wegen
„gefährlichen Eingriffs in den Flugverkehr“ einzuleiten. Denn nicht nur hatte
der Gouverneur die schon geschlossene Tür des abflugbereiten Flugzeugs wieder
öffnen lassen. Er war auch mit seinem Dienstwagen direkt auf das Flugfeld
gefahren und ohne Sicherheitskontrolle ins Flugzeug eingestiegen.
 

Was ist nun besonders
an diesem Fall? Zuerst die Tatsache, dass der Flugkapitän sich dem Befehl „von
oben“ (aber eben nicht seinem „von oben“) überhaupt  widersetzt hat. Dann, dass er danach nicht
klein beigegeben hat, sondern sich auch nach dem Flug weiter gegen derartige
Unverschämtheiten verwahrte. Weiter, dass irgendwer (er?) den Mitschnitt des
Towergesprächs zur Internetveröffentlichung weiter gegeben hat. Nächst
bemerkenswert ist, dass die Leitung von Aeroflot (in Staatsbesitz) ihren
Flugkapitän offenbar stützt, jedenfalls ist öffentlich nichts anderes
verlautet. Hier geht Business wohl inzwischen vor.
 

Das alles zeigt
vor allem eins: Die Angst vor „denen da oben“ ist ganz allgemein kleiner
geworden. Denn das ist oft die erste Frage, die hierzulande in solchen Fällen gestellt
wird: „Hat der denn keine Angst?“ Hatte er offenbar nicht. Und für derartiges
Keine-Angst-Haben gibt es, wohl gemerkt überwiegend unterhalb der direkt
politischen Ebene, immer mehr Beispiele.
 

Gemein ist fast
allen von ihnen, dass irgendjemand, oft staatliche Stellen, in den
unmittelbaren Lebensbereich von Menschen eingreifen. Diejenigen, die sich zu
wehren beginnen, sind meist nicht die Ärmsten (sie sind resigniert oder
erwarten vom Staat nichts anderes) und nicht die Reichsten (sie haben eigene Möglichkeiten,
ihre Probleme zu lösen. Es sind meist Menschen, die sich einen kleinen
Wohlstand (der im übrigen eine gewissen Freiheit vom Staat, ein
„Nichtangewiesensein“ auf die Barmherzig- und Großzugügkeit des Staates
bedeuten) aufgebaut haben, den sie nun verteidigen.
 

Ein Beispiel
dafür ist die Siedlung „Elitnyj“ unweit von Nowosibirsk. In den 1990er Jahren
haben Menschen hier Bauland bekommen. Das wurde durch einen Ukas des damaligen
Präsidenten Boris Jelzin möglich, der erlaubte, Agrarland in der Nähe großer
Städte in Bauland umzuwandeln. Die Menschen bauten dort ihre Häuser. Manche
wohlhabender als andere. Viele bauten erst den Keller, dann, vielleicht im
nächsten Jahr, wenn wieder etwas Geld a war, die erste Etage, zogen dann ein
und bauten weiter. Viele Häuser sind bis heute nicht „fertig“.
 

Die relative
Idylle wurde gestört, als Anfang der 2000er nebenan, auf einer Kuhwiese plötzlich
gegen alle Gesetze ein Industriegebiet mit Eisenbahnanschluss, viel Lärm und
viel Dreck hochgezogen wurde. Dahinter stand ein in Russland recht verbreitetes
Korruptionsschema. Trotzdem das allen klar ist, war alle Gegenwehr vergeblich. Russische
Gerichte bis hoch zum Obersten Gericht verwehrten den Klagenden allein schon
das Klagerecht. Der Fall inzwischen zur Entscheidung beim Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte.
 

Zugleich sitzen diese
Leute nun in Häusern, in denen zu leben nur noch schwer möglich ist. Verkaufen
können sie ihren Besitz aber auch nicht, denn niemand will Häuser mit einer
solchen Nachbarschaft zu einem vernünftigen Preis kaufen. Praktisch wurden die
BewohnerInnen von „Elitnyj“ enteignet.
 

Normalerweise
enden hier solche Geschichten. Doch die betrogenen HausbesitzerInnen machten
nicht halt. Sie stellten zu den Kommunalwahlen im vergangenen März einen
eigenen Kandidaten für die Ortsbürgermeisterwahl auf und gewannen gegen den Kandidaten
der Kremlpartei „Einiges Russland“. Nun wollen sie die Gemeindeordnung ändern
und sehen, ob sie, wenn sie das Industriegebiet schon nicht mehr wegbekommen,
wenigstens Entschädigung erreichen. Gut stehen ihre Chancen nicht, aber sie
sind bisher nicht bereit aufzugeben.
 

Das waren nur
zwei kleine Beispiele aus denen politisch zudem bisher kaum etwas folgt. Der Unterschied
zu früher liegt in ihrer wachsenden Zahl.
 
  


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