Igor Sutjagin. Über die menschliche und die unmenschliche Seite des russisch-amerikanischen Agententauschs

Igor Sutjagin wurde im Herbst 1999 verhaftet. Im gleichen Jahr wurde Alexander Nikitin frei gesprochen. Alexander Nikitin hatte Glück. Igor Sutjagin Pech. Seit heute Nacht ist auch Igor Sutjagin frei, ausgetauscht als „amerikanischer Spion“, der er nicht ist, wie Alexander Nikitin keiner war. Beide Fälle haben noch mehr miteinander gemeinsam. An Alexander Nikitin probierte der Inlandsgeheimdienst FSB, zum Glück noch erfolglos, aus, was später bei Igor Sutjagin und anderen Erfolg hatte: Wie man Landesverrat konstruiert, ohne dass etwas verraten wurde. Das klingt unlogisch und wirft die Frage nach dem Sinn auf. Doch zuerst zum Agententausch.

Russland schlägt die USA 10:4“ titelte heute Morgen die russisch, eher kremlkritische Internetzeitung newsru.com. Zehn mutmaßliche russische Spione wurden auf dem Wiener Flughafen (es lebe die österreichische Neutralität!) ausgetauscht. Zuvor hatten alle gestehen müssen: Die in den USA Verhafteten, dass sie für Russland spioniert haben, und die in Russland wegen Spionage schon Verurteilten, dass sie den USA Geheimes zugeschanzt hatten.

Das Ganze, Verhandlungen und Austausch, ging, in kitzeligen Geheimdienstabgelegenheiten erher ungewöhnlich, schnell, reibungslos und wenig geheim über die Bühne. Beide Regierungen sind ganz offensichtlich bemüht, die Sache nicht zu einem Skandal auswachsen zu lassen. Gemessen am Tauchverhältnis scheint die Furcht, die Spionageaffäre könne die gerade im Aufwind befindlichen US-russischen Beziehungen erneut verschlechtern, in Washington größer zu sein als in Moskau. Doch nicht der Spionageskandal interessiert mich hier. Die Welt der Spione ist eine ganz eigene, oft um sich selbst kreisende und die eigenen Notwednigkeit immer wieder selbst „bewesiende“, wie das vor ein paar Tagen Nils Minkmar im Feuilleton der FAZ unter der Überschrift „Spione wie wir“ schön dargelegt hat.

Das gilt aber alles vor allem (wenn überhaupt) für die schöne, spannende und abenteuerlich-heldenhafte Welt der Spionage zwischen Ländern. Unangenehm wird es vor allem dort, wo die Spionenjagd mit der Jagd nach Andersdenkenden zu eng vermischt wird. Nach einer kleinen, nicht einmal zehnjährigen Pause ist das in Russland leider der Fall. Das macht das Schicksal von Igor Sutjagin, Politikwissenschaftler von Beruf, so besonders in dieser Agentengeschichte.

Igor Sutjagin saß bis gestern seit knapp elf Jahren im Gefängnis und im Arbeitslager, weil er analytisch zu denken gelernt hat. Das ist keine Übertreibung. Er hat Ende der 1990er Jahre, im Auftrag eines britischen Instituts (von dem der russische Geheimdienst behauptet, es arbeite für den US-amerikanischen Geheimdienst) eine Studie über russische Atombewaffnung geschrieben. Alles, was in der Studie steht, war zum Zeitpunkt als Sutjagin sie schrieb, bereits veröffentlicht. Der „Verrat“, der ihm vom FSB vorgeworfen und vom Gericht bestraft wurde, bestand darin, diese Fakten mit seinem besonderen, dienstlich erworbenen Wissen so neu zusammen gesetzt zu haben, dass das Ergebnis Russland geschadet habe. Der Verrat bestand also nicht darin Fakten, Material, geheime Papiere oder geheimes Wissen weiter gegeben zu haben, sondern darin, bekannte Fakten neu durchdacht und analysiert zu haben. Nach russischer Geheimdienstlogik ist das Vaterlandsverrat und der gehört schwer bestraft.

Sutjagin bekam nach über vier Jahren Ermittlungen und Prozess 15 Jahre. Amnesty International erklärte ihn 2004 nach einem Appell russischer Menschenrechtler zum politischen Gefangenen, dem ersten im nachsowjetischen Russland. Seine Anträge auf Entlassung auf Bewährung nach der Hälfte der Zeit wurden abgelehnt, weil er seine Schuld, die Schuld klug zu denken, nicht eingestand.

Igor Sutофgin hatte auch das Pech, dass er festgenommen wurde, als Wladimir Putin schon Premierminister war und kurz darauf Präsident wurde. Ähnliches wie bei ihm wurde auch mit Alexander Nikitin versucht. Der Flottenoffizier und Ingenieur hatte ebenfalls als öffentlich zugänglichen Materialien eine Untersuchung für Ausländer, für die norwegische Umweltorganisation Bellona, angefertigt, allerdings ein paar Jahre früher. Es ging um die im Nordmeer vor sich hinrostenden russischen (vormals sowjetischen) Atom-U-Boote und die von ihnen ausgehenden Umweltgefahren.

Nikitin war zuvor als Inspekteuer für Atomsicherheitsfrage der russischen (und vorher der sowjetischen) Nordmeerflotte zuständig. Genau daraus versuchte der FSB ihm nach seiner Festnahme 1996 einen Strick zu drehen. Nur mit seinem dienstlich erwarbenen Wissen habe er zu den Schlüssen kommen können, zu denen er gekommen sei. Und die schadeten Russland. Doch damals, noch zu Präsident Jelzins Zeiten, kamen dem Gericht Zweifel an dieser Argumentation. Es forderte die Staatsanwaltschaft auf, die Sache noch einmal zu „nachzuuntersuchen“ (eines der Wunder der rusischen Justiz) und später wieder zu kommen. Danach versuchte der FSB es mit einem anderen schmutzigen Trick. Er erklärte von Nikitin benutzte Dokumente nachträglich für geheim und forderte erneut dessen Verurteilung. Aber auch dieses Spiel machte das Gericht nicht mit und sprach Alexander Nikitin nach drei Jahren, davon zehn Monate in Untersuchungshaft, endlich frei. Das ist bis heute der einzige Freispruch in einem Spionageprozess in Russland.

Igor Sutjagin hatte weniger Glück, vielleicht auch einen schlechteren Anwalt. Die Zeiten hatten sich geändert. Nun musste er sehr schnell unter großem Druck die Entscheidung treffen, sich schuldig zu bekennen und auszuwandern oder weiter im Arbeitslager zu bleiben. Es ist schön, dass Igor Sutjagin nun frei ist. Es ist bedrückend, dass er die Freiheit nur zu diesem hohen Preis für sich und andere erlangen konnte. Amnesty International und russische Menschenrechtler kritisierten bereits, dass Sutjagin vor diese Wahl gestellt wurde.

 

 


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