Videoblogger und Polizist Dymowskij – Held oder Verräter?

Es ist schwer heutzutage in Russland als Polizist ein Held zu sein. Retter aus allen Notlagen sind die Feuerwehr und die Beamten des katastrophenschutzes, manchmal aber eher selten der Armee. Vor Terroristen schützen die Kollegen vom Geheimdienst (und brüsten sich regelmäßig damit, wie viele Anschläge sie wieder einmal verhindert haben, eine dankbare Angelegenheit, weil die oft beeindruckenden Zahlen ohnehin niemand überprüfen kann). Die Dummen sind die Polizisten (und das nicht nur in den in Russland beliebten Polizeiwitzen, in denen die Ordnungshüter Ostfriesen in nichts nachstehen): Sie sind brutal, korrupt, foltern, fälschen Beweise und Statistiken (außer vielleicht im Fernsehen). Morgen, am 10. November ist der offizielle „Tag der Miliz“. Am Abend gibt es ein Galakonzert im Kreml. Der Innenminister Raschid Nurgalijew wird in der ersten Reihe sitzen. Ob Premierminister Putin oder Präsident Medwedjew neben ihm sitzen werden, ist fraglich. Nurgalijew hat eine schwarze Strähne.

Im April hatte in Moskau ein Polizeimajor nachts in einem Supermarkt mit seiner Dienstpistole um sich geschossen und dabei drei Menschen getötet und weiter vier schwer verletzt. Im Oktober wurde der Pollizeichef von Burjatien verhaftet, weil er illegal in großem Stil Holz aus sibirischen Wäldern nach China verschoben hatte. Im gleichen Monat musste der Polizeichef der Republik Tyva zurücktreten, weil ein Polizeichef auf zwei Verkehrspolizisten geschossen hatte, von denen einer an den Verletzungen starb. Im August hatte Nurgalijew noch versprochen, er werde die Korruption in der Polizei binnen einen Monats ausmerzen. Auch hier musste Medwedjew helfend einspringen und in einem Spiegel-Interview erklären, Nugalijew hötte nur die größten Amphibien im Korruptionssumpf gemeint.

Und nun dies. Alexej Dymowskij, Major der Miliz aus dem russischen Schwarzmeerhafen Noworossijsk wendet sich per Internet an Premierminister Putin und an seine Kollegen in der Miliz. Beide Videobotschaften wurden binnen weniger Tage zu Internethits. Über 400.000 mal wurde jede von ihnen allein bei Youtube aufgerufen. Was Dymowskij dort in Uniform auf einem Sofa sitzend in die Kamera spricht ist kein Geheimnis. Er sagt, was alle Menschen in Russland sowieso glauben (ich gehöre auch dazu), womit sich die meisten aber abgefunden zu haben scheinen: Die Miliz ist korrupt. Strafverfahren werden eröffnet, weil es so gefordert wird oder weil Kennzahlen einzuhalten sind. Oder es wird nicht ermittelt, weil jemand gut gezahlt oder gute Vewrbindungen „nach oben“ hat. Viele Polizisten sind vorbestraft. Beweise werden gefälscht. In Polizeistationen wird gefoltert. Diese Liste ließe sich fortsetzen.

Die schiere Verbreitung dieser schlichten und doch schrecklichen Dinge im Internet hat nun einen wahren Sturm ausgelöst. Von unten bis nach ganz hat der Polizei-Staat reagiert: In Noworossijsk halten die Kollegen den Videohelden schlicht für einen Verräter. Die übergeordnete regionale Polizeibehörde in Krasnodar hat in einer wahrhaft gründlichen Untersuchung übers Wochenende schon herausgefunden, dass an den Vorwürfen Dymowskijs nichts dran sei, der Mann selbst hingegen von zweifelhafter Reputation und werden überhaupt von ausländischen NGOs mit amerikanischem Geld finanziert. Das Innenministerium in Moskau hat Dymowskij vorsichtshalber erst einmal vom Dienst suspendiert und eine „gründliche Untersuchung“ versprochen. Der Unterton des Ministeriumssprechers lässt dabei für Dymowskij nichts Gutes ahnen. Als höchste und letzte Instanz nun hat Präsident Medwedjew die ganze Sache an sich gezogen und will den Ausgang des Vorgang höchstselbst kontrollieren. Möchtegernmenschenrechtler von der kremlnahen „Gesellschaftskammer“ wollen Dymowskij gegen mögliche Pressalien seiner bisherigen Kollegen und Vorgesetzten schützen. Kurz: Die ganze Küche kocht.

Das alles sagt selbstverständlich wenig darüber aus, ob die Anschuldigen des Polizeimajors stimmen. Wirklich belastbare Informationen sind, bei dem öffentlichen Lärm kaum verwunderlich, rar. Bisher gibt es kaum weniger als die Aussagen Dymowskijs selbst. Zum Politikum ist die Sache aus drei Gründen geworden.

Der erste Grund ist so einfach wie traurig: Es gibt im ganzen großen Land über elf Zeitzonen von Kaliningrad bis zur Halbinsel Tschukotka kaum jemanden, der es nicht für möglich, ja nicht für sehr wahrscheinlich hält, dass Alexej Dymowskij genau beschreibt, was auf gut 17 Millionen Quadratkilometer alltägliche Praxis ist. Die russische Polizei ist in den Augen einer großen Mehrheit der Menschen in Russland ein Sicherheitsrisiko. Wer Probleme hat, wer Schutz braucht, wendet sich erst einmal an wen auch immer, nur nicht an die Polizei. Von ihr ist, so aus Erfahrung klug gewordene Volkesmeinung, in Gefahr im besten Fall keine Hilfe zu erwarten. Es besteht aber die Befürchtung, sich noch zusätzlichen Ärger zu verschaffen, wenn man sich an sie wendet. Dymowskij hat also mit seinen Anschuldigungen sozusagen ein Heimspiel.

Der zweite Grund liegt im populistischen Charakter des herrschenden politischen Systems ebenso wie in seiner unvollkommenen Kontrolle der Öffentlichkeit. Russland ist ein Land mit stark eingeschränktem Zugang zu politischer Beteiligung, aber keine Diktatur. Es ist ein Land mit staatlich kontrollierten elektronischen Massenmedien, aber einem bis heute völlig unkontrollierten Internet. Und, das zeigt der Fall Dymowskij, ein Land, in dem das Internet beginnt, einen politische Rolle jenseits einer kleinen oppositionellen Minderheit zu spielen. Jedenfalls wenn es um Fragen geht, die fast jeden Menschen täglich angehen.

Der dritte Grund ist spekulativer. Er hat mit der gegenwärtigen Wirtschaftskrise zu tun, mit der Doppelspitze Putin/Medwedjew und der gegenwärtig zumidendest von Medwedjew betriebenen „Modernisierung von oben“. Das von Putin aufgebauten Modell politischer Herrschaft scheint an einen Scheidepunkt gekommen zu sein. Die Wirtschaftkrise zeigt schonungslos auf, dass die vergangenen Jahre enorm hoher Einkünfte aus dem Export von Rohstoffen und vor allem von Öl und Gas weitgehend ungenutzt verstrichen sind, jedenfalls, was die Modernisierung des Landes angeht. Das ist der Hintergrund von Medwedjews anschwellender Kritik an den Zuständen im Land (siehe Medwedjews Beitrag „Russland, vorwärts“ in der oppositionellen Internetzeitung gazeta.ru) und des erklärten „Kampfes gegen die Korruption“ an erster Stelle. Übermorgen, am 12. November, wird Medwedjew aller Voraussicht nach in seiner Rede an die Nation vor beiden Parlamentskammern diese Kritik weiter ausbauen. In dieser Situation kann er einen so schnell und so weit verbreiteten Videoblog wie den von Alexej Dymowskij, der zudem genau die gleichen Zustände anprangert wie Medwejew, nicht ignorieren, ohne sofort zur lahmen Ente zu werden.

 Alexej Dymowskij hat heute, am 10. November, mit einer Pressekonferenz in Moskau noch einmal nachgelegt und seine Anschuldigungen nun vor hauptstädtischem Publikum wiederholt. Ob wahr ist, was er sagt, ist, ich wiederhole mich, momentan kaum zu beurteilen. Die russiche Polizei ist trotzdem arg in die Defensive geraten.


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