Bundestag fordert rechtsstaatliches Verfahren für Chodorkowskij

Gestern Nacht hat der Deutsche Bundestag einen „Rechtsstaatlichkeit in Russland stärken“ überschriebenen Antrag der Fraktionen der Grünen, der CDU/CSU, der FDP und der SPD angenommen. Die Querelen und Qualen hinter den Kulissen um diesen von den Grünen  initiierten Antrag, vor allem aber das Zieren der SPD, habe ich vor einem Monat bereits in diesem Blog beschrieben. Nach langem Hin und Her und glücklicherweise weitgehend vergeblichen sozialdemokratischen Weichspülversuchen ist nun ein durchaus vorzeigbare Erklärung des Bundestags dabei herausgekommen. Darin wird die Bundesregierung, wenn auch sprachlich etwas verdruckst, unter anderem aufgefordert, „im Rahmen der Europäischen Union eine Beobachtung des Prozesses gegen Chodorkowskij und Lebedew zu unterstützen, die eine Bewertung des Verfahrens ermöglicht, über die der Deutsche Bundestag regelmäßig zu informieren ist“. Außerdem „rechtsstaatliche Defizite Russlands – auch am Beispiel des Verfahrens gegen Chodorkowskij und Lebedew – konkret zu thematisieren und gegenüber der russischen Regierung auf die aus der Mitgliedschaft im Europarat und der OSZE erwachsenen Verpflichtungen hinzuweisen“. Das ist ein gutes Signal, worauf auch Marieluise Beck, die Hauptinitiatorin des Antrags, in einer Presseerklärung hinweist.

Seit der zweite Prozess gegen Chodorkowskij und Lebedew begonnen hat, werde ich wieder öfter gefragt, warum man sich denn für einen ehemaligen „Oligarchen“ einsetzen soll, der sich in der Jelzin-Zeit wie alle anderen, die damals phantatsisch reich geworden sind, nicht an alle Gesetze gehalten habe. Jemand, der gemeinsam mit den anderen „Oligarchen“ das Land in der zweiten Amtperiode Jelzins am gewählten Präsidenten vorbei regiert habe. Jemand, der dann, als Putin kam, um aufzuräumen, Parlamentsabgeordnete gekauft haben soll, um nun darüber politische Macht zu erlangen. Chodorkowskij, so letztendlich die Argumentation, habe das dreckige Oligarchenspiel zumindest mitgespielt, wenn nicht gar an forderster Front und bekomme nun die Rechnung. So jemand tauge nicht als demokratischer Held, als politischer Gefangener, sondern sei ein ganz gemeiner Krimineller. Einer, der nun die Öffentlichkeit, vor allem Menschenrechtler und gutgläubige Westler an der Nase herumführe. Ich werde so kurz und gerafft wie möglich versuchen zu erläutern, wiarum ich diese Sicht für falsch und politisch kurzsichtig halte:

Eines, wenn nicht das wichtigste strategische Projekt der ersten Putin-Amtszeit war es, die russische Gas- und Ölindustrie wieder unter staatliche Kontrolle, wo möglich in staatlichen Besitz zu bringen. Damit waren drei Ziele verbunden: Erstens den Staat, der in den letzten Jelzinjahren praktisch von den deshalb so genannten Oligarchen regiert wurde, als Staat wieder handlungsfähig zu machen. Zweitens stand dahinter die Erkenntnis, dass die Kontrolle darüber weitgehende Kontrolle über die politischen Prozesse in Russland erlaubt (also den machterhalt sichert). Drittens wurden die Öl- und gasvorkommen nach dem Ende der Sowjetunion als einziges realistisches Mittel gesehen Russland zumindest einen Teil seiner verlorenen geopolitischen Bedeutung wieder zu verschaffen. Direkt nach seinem Amtsantritt begann Putin die Oligarchen zu bekämpfen. Die beiden öffentlich und politisch bis dahin rührigsten, Boris Beresowskij und Wladimir Gussinskij wurden strafrechtlich verfolgt und in die Emigration getrieben. Allen anderen wurde, unter anderen bei einem Treffen im Kreml 2001, eine Art Deal angeboten: Sie sollten sich aus der Politik heraushalten, strategische Entscheidungen des Kremls mittragen, dafür aber weiter ihre Konzerene behalten dürfen. Alle außer Michail Chodorkowskij fügten sich.

Chodorkowskij forderte Putin heraus, indem er offen politische Parteien finanzierte (Jabloko, Einiges Russland, KP), oppositionelle Abgeordnete unterstützte und öffentlich Korruption von Putin-Vertrauten anprangerte. Vor allem aber forderte er, die wilde Privatisierung der 1990er Jahre, die von der überwiegenden Mehrheit der Menschen in Russland nicht als legitim anerkannt wurde (und bis heute nicht wird), zu überdenken. Allerdings solle das, so Chodorkowskij damals, nicht durch einen erneuten Deal zwischen den politischen und wirtschaftlichen Machthabern und hinter geschlossenen Türen geschehen, sondern in einer öffentlichen Diskussion und anschließend in ein Gesetz gegossen. Dabei ist es zwar nicht egal, spielt aber auch nicht die entscheidende Rolle, ob sich Chodorkowskij nun vom Saulus zum Paulus gewandelt hatte (was im politisch zutiefst zynischen Russland ohnehin kaum jemand geglaubt hätte) oder ob dahinter das durchaus rational Kalkül stand, nur so zumindest einen Teil seines Reichtums retten zu können. So oder so lehnte der Kreml dankend ab. Als legitim in der Bevölkerung anerkanntes Kapital und Kapitalisten ließen sich schließlich viel schwieriger manipulieren und lenken als diejenigen, denen nur mit Volkeszorn und Revolution gedroht zu weren braucht. 

Chodorkowskij wurde mehrfach gewarnt, er solle das lassen und am besten auch außer Landes gehen. Doch er ignorierte die Warnungen. Im Sommer 2003 wurde als nun schon sehr handfeste Warnung sein Partner Platon Lebedew verhaftet. Chodorkowskij zeigte sich äußerlich unbeeindruckt. Ende Oktober 2003 wurde er selbst verhaftet und 2005 zusammen mit Lebedew zu jeweils 8 Jahren Lagerhaft verurteilt. 2007 wurde ein zweites Verfahren gegen die beiden begonnen. Die Verhaftung Chodorkowskijs wird heute allgemein als das Ende aller liberalen Tendenzen der ersten Präsidentschaft Putins bewertet. Danach nahm die gelenkte Demokratie erst richtig Fahrt auf. Das neue Verfahren ist deshalb auch ein test, ob es der neue Präsident Dmitrij Medwedjew mit seinem Ruf nach mehr Rechtsstaatlichkeit ernst meint. Chodorkowskij Fall wurde zum Symbol. Bei aller gelenkten Öffentlichkeit zeigen Meinungsumfragen, wie jene des Levada-Zentrums (auf russisch), dass die Menschen  wissen, dass Chodorkowskij und Lebedew nicht für die ihnen zur Last gelegten Taten verurteilt wurden und nun erneut angeklagt sind (selbst wenn sie es generell für „gerecht“ halten, dass sie sitzen).