Wodka als Krisenindikator

Viele Volkswirtschaften haben Schlüsselbranchen, von deren Wohlergehen zwar nicht alles, aber viel abhängt und die sich tief in das nationale (Selbst-)Bewusstsein gegraben haben. In Deutschland sind das zum Beispiel Autos – siehe die Aufregung um Opel. Das ist in Russland nicht anders. Doch soll hier heute nicht, wie man denken könnte, von Öl oder Gas die Rede sein, sondern vom Wodka. Der Wodka ist ein echter Krisenindikator. Seit die weltweite Wirtschaftskrise auch in Russland so richtig angekommen ist, sinkt der Absatz der Wodkaindustrie. Wohlgemerkt: Nicht der Wodkaverbrauch (vulgo: die Menge, die durch die Kehlen fließt) sinkt, sondern der Absatz der Produzenten. Ein russisches Paradox? Ja, aber ein sehr altes und erklärbares!

Die Erklärung hat zwei Teile. Zum einen wird in Russland weit mehr Wodka gekauft als offiziell produziert. 2008 wurden rund 17 Millionen Liter verkauft (mit einer Steuermarke versehen), aber nur etwa 12 in den staatlich kontrollierten Fabriken hergestellt. Wie das? Der Rest stammt aus illegaler Produktion (und vieles davon aus Ossetien, aus dem zu Russland gehörigen Norden ebenso wie aus dem kürzlich erst als unabhängig anerkannten, völkerrechtlich zu Georgien gehörenden Süden). Nun war 2008 noch nicht so richtig ein Krisenjahr. Die Schere ist also normal. Nun geht sie weiter auf. Für 2009 werden schon 30 bis 35 Prozent illegaler Produktion erwartet. Der Kunde ist zwar weiter durstig, aber finanziell klammer. Da weicht er auf steuerlich unbelastete Produktionssegmente aus.  

Der zweite Teil der Erklärung hat mit dem chemischen Geschick vieler Russinnen und Russen zu tun. Wenn der Wodka im Geschäft knapp wird (wie zu Zeiten der Gorbatschowschen Prohibition) oder zu teuer (wie in Zeiten wirtschaftlicher Probleme, also jetzt), werden viele russische Küchen, Datschen oder Garagen eben flugs in kleine (manchmal auch große) Destillerien umgewandelt. Folge: Der Umsatz sinkt, die gekippte Wodkamenge bleibt gleich oder wird sogar noch größer.

Und noch eine Folge dürfte die Krise (wie alle ihre Vorgängerinnen) haben: Die Männersterblichkeit wird steigen. Schon heute ist Russland (zusammen mit Albanien) Schlusslicht in Europa bei der durchschnittlichen Lebenserwartung von Männern. Nur knapp 60 Jahre sind einem durchschnittlichen Russen auf dieser unserer schönen Erde vergönnt. Der Wodka ist einer der eifrigsten Unterstützer von Gevatter Tod. Und schlechter Wodka, Fusel auf gut deutsch, schlecht selbst gebrannt oder, noch schlimmer, von gewissenslosen Geschäftemachern gepanscht wird diese heute schon traurige Zahl weiter nach unten drücken. Schon unter Grobatschow wurde Mitte der 1980er Jahre die gesundheitsfördernd gedachte Antialkoholkampagne auch deshalb abgebrochen, weil es wegen des „Samogon“, des Selbstgebrannten mehr Alkoholtote gab als je zuvor.

Viel mehr zum Wodka in Russland gibt es in zwei kleinen Büchlein zu lesen:

Als genial-tragikomisches Poem: Wenedikt Jerofejew „Die Reise nach Petuschki“, 169 Seiten bei Piper

Als nüchtern-wütender Essay: Sonja Margolina „Wodka. Trinken und macht in Russland“, 184 Seiten im wjs-Verlag


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