Assoziationen zum Systematischen im System Putin

Zwei Zitate aus Karl Schögels großem Versuch, den stalinschen Schrecken in „Terror und Traum. Moskau 1937“ auf Papier zu bannen, laden zum Assoziieren im Heutigem ein:

S.26: „Das 'System' erweist sich in Wahrheit als ein notdürftig beherrschtes, zu weilen aber auch als ein immer wieder zur Herrschaftssicherung erneut entfesseltes Chaos. 'Die Macht' – das ist oft wenig mehr als eine in wenigen befestigten Stützpunkten verschanzte Vereinigung von im Bürgerkrieg erprobten und gehärteten Männern, um die es in jedem Augenblick geschehen sein kann.“

S. 30: „Die Eriegnisse – in ihrer Abfolge erzählt und analysiert – ergeben eine gewisse Linie der Beschleunigung, aber nichts deutet auf einen Plan. Auch jene, die an zentraler Stelle planen und dirigieren, sind nur eine Kraft unter vielen in einem unübersehbar großen Kraftfeld.“

Nun ist Putin kein Stalin und will wohl auch, aller Stalin-Renaissance zum Trotz, keiner sein. Russland heute ist nicht die Sowjetunion Stalins, ja nicht einmal die Sowjetunion unter Breschnjew. Aber die Beschaffenheit des russischen Staates, der, wie es im Russischen und nur sehr ungefähr übersetzbar heißt, „Macht“, schimmert durch diese Zitate weiter durch. Das macht die Ereignisse weniger dämonisch, aber nicht weniger schrecklich. So wie die Stalin-Renaissance ein eher ungewolltes Nebenprodukt der Suche nach Anknüpfungspunkten nationaler Größe in Russland ist (siehe dazu die Rede von Arsenij Roginskij auf der Stalinismuskonferenz Anfang Dezember 2008 in Moskau), so ist die Einschränkung politischer Freiheit zwar nicht das Ziel Putinscher Politik, aber eine böse, zumindest in Kauf genommene Nebenwirkung. Das macht es nicht besser. Das macht es nicht leichter. Aber es ist etwa anderes.

Literaturhinweis: Karl Schlögel, Terror und Traum. Moskau 1937, Carl Hanser Verlag, München 2008, Gebunden, 811 Seiten, 29,90 EUR
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